„Wird man uns verjagen?"

Zionismus. Theodor Herzl, Korrespondent der „Neuen Freien Presse", sah tödliche Gefahren auf das jüdische Volk zukommen. Er wurde geprägt vom Antisemitismus in Luegers Wien.

Eigentlich wollte der junge Theodor Herzl etwas ganz anderes schreiben: Nämlich stimmungsvolle Impressionen aus den Wiener Praterauen, ironische Betrachtungen über Wiens Bürger an der Sirk-Ecke. Doch die „Neue Freie Presse" stellt den Literaten 1891 als Paris-Korrespondenten an. Er beginnt jetzt die beiden Berufe - Poet und Journalist - gekonnt zu vereinigen, verfolgt französische Parlamentssitzungen, verfasst Feuilletons über das Pariser Gesellschafts- und Kulturleben, bewältigt auch den Termindruck, rechtzeitig für das Morgen- oder Abendblatt nach Wien zu telegrafieren - und verzichtet dennoch nicht auf seinen literarischen Anspruch. Das wissen die Leser zu schätzen, Herzl wird zu einem ihrer Lieblingsjournalisten.

Entwürdigende Zeremonie

Kein Abschnitt in Herzls Biografie ist genauer analysiert worden als die Jahre seiner Pariser Tätigkeit: 1892 bemüht er sich in einem Artikel „Französische Antisemiten" zum ersten Mal um eine Deutung antisemitischer Tendenzen in Frankreich, am 5. 1. 1895 berichtet er von der entwürdigenden Zeremonie der Degradierung von Hauptmann Alfred Dreyfus (s. Artikel links). Der Fall wäre wahrscheinlich in einer Schublade gelandet, wäre es nicht durch das Echo in der französischen Öffentlichkeit zu einer tief greifenden Krise des Landes gekommen: Anklage und Verurteilung des jüdischen Offiziers wegen Landesverrats stand auf schwachen Beinen. Zweifel an Beweismitteln wurden unterdrückt, ein regelwidriges Verfahren vor dem Hintergrund starker antisemitischer Strömungen wurde zum Tagesgespräch - bald in ganz Europa.
Zweifellos war in Paris Herzls Besorgnis über die Judenfrage gewachsen. Doch auch Erlebnisse in Wien lebten in ihm fort. Die Zusammenstöße mit antisemitischen Burschenschaftern und deutschnationalen Gefolgsleuten von Georg von Schönerer in Wien hat er selbst als Student in Wien erlebt, die Radikalität der französischen Antisemiten ließ ihn aber die Judendebatten im österreichischen Abgeordnetenhaus reichlich antiquiert erscheinen. Doch Herzl gelangte zu der Prognose, dass das, was in Frankreich geschieht, zeitverzögert auch in Österreich eintreten werde. So kann sein sich obsessiv entwickelndes Gedankengebäude zur Lösung des Judenproblems wohl am ehesten als dialektisches Ergebnis seiner Erfahrungen im Wien der Lueger-Jahre und dem Erlebnis der Pariser Ereignisse gesehen werden.
Die Gemeinderatswahlen vom 2. April 1895 brachten einen solchen Zuwachs der Christlichsozialen unter der Führung Karl Luegers, dass die liberale Partei auf zehn Sitze herabsank. „Noch ein kleiner Ruck", schrieb am Tag der Wahl die „Neue Freie Presse", die tags zuvor die jüdischen Wähler ausdrücklich zur Ausübung ihres Wahlrechts ermahnt hatte, „und Lueger ist Herr des Gemeinderats und Wien die einzige Großstadt in der Welt, die das Brandmal der antisemitischen Verwaltung trägt."
Der rasche und erfolgreiche Durchbruch der christlichsozialen Bewegung lag vor allem daran, dass Lueger der erste moderne Volkstribun Österreichs war. Das Zeitalter der Massendemokratie war angebrochen und der „schöne Karl" wurde zum Idol der breiten Massen. Den Antisemitismus benützte er als wirksame demagogische Waffe zur Gewinnung der Sympathien der Wiener Kleinbürger. Allerdings arrangierte er sich auch mit jüdischen Mitbürgern, denn „Wer a Jud' is, bestimm' i."
An diesen „gemütlichen" Wiener Antisemitismus, der schon keinen größeren Schaden anrichten werde, hat Theodor Herzl nie geglaubt. Er bezweifelt zunehmend, dass in Zukunft ein Zusammenleben von Juden und Nichtjuden auf der Basis gegenseitigen Verständnisses und gegenseitiger Duldung möglich sein würde.

„Es ist bitterer Ernst"

Herzl galt damals mit seinen Zionismusideen als sektiererischer Querdenker mit unrealisierbaren Ideen. Wenn er nicht so ein guter Feuilleton-Autor gewesen wäre, hätte er seinen Platz in der Zeitung wohl verloren. Von der Wiener Kommunalpolitik hatte er sich bereits gedanklich entfernt. Er hat bereits seine Schrift „Der Judenstaat" publiziert und ist Führer der zionistischen Bewegung geworden. Er sah die europäischen Juden in tödlicher Gefahr: „Wird man uns verjagen? Wird man uns erschlagen? Es ist bitterer Ernst . . . wir haben keine Zeit zu verlieren." Am 4. Juli 1904 war sein Kampf zu Ende, er hatte den Wettlauf verloren.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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