Der Revolutionär und das Bürgerblatt

BRITAIN KARL MARX 125TH ANNIVERSARY OF DEATH
BRITAIN KARL MARX 125TH ANNIVERSARY OF DEATHEPA
  • Drucken

Sozialismus. Karl Marx, Viktor Adler und die Finanzkrise – über das merkwürdige Verhältnis der liberalen Zeitung zum Sozialismus.

Karl Marx liefert uns im November 1848 einen tiefen Einblick in das Kampfwörterbuch des linken Totalitarismus. Als Chefredakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung“ diktiert er mit Schaum vor dem Mund den Leitartikel über den Sieg der Gegenrevolution in Wien: „Verrat jeder Art hat Wiens Fall vorbereitet . . . Der Kannibalismus der Konterrevolution selbst wird die Völker überzeugen, dass es nur ein Mittel gibt, die mörderischen Todeswehen der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen, zu vereinfachen, zu konzentrieren, nur ein Mittel – den revolutionären Terrorismus.“ Die Wiener Oktoberrevolution endet ja im Unterschied zu ihrer Namensvetterin von 1917 nicht in einem neuen Regime, kein Lenin ergriff die Macht, um der Weltgeschichte eine andere Wendung zu geben.

Dabei hat sich der Verfasser des „Kommunistischen Manifests“ selbst um die Agitation in der Reichshauptstadt gekümmert. Zwischen 28. August und 6. September machte der 30-jährige Karl Marx eine Stippvisite in Wien, nicht als Revolutionstourist, sondern als rühriger Agitator im Entscheidungskampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Keine der Wiener Zeitungen schrieb ihn damals richtig, als „Dr. Carl Marxe“, „Dr. der Philosophie aus Paris“, „Herr Dr. Marks“ oder gar nur als „ein fremder Doktor“ taucht er auf, der den Wienern die Revolution beibringen wolle. Von Kontakten zur neu gegründeten „Presse“ keine Spur. Verständlich: Die Zeitung positionierte sich in der Mitte, stellte sich gegen Radikalismus und Reaktion und wandte sich klug kalkulierend an jene Schicht, die Marx verabscheute wie der Teufel das Weihwasser: das liberale Bürgertum.

13 Jahre später hat die Geschichte ihren rasenden Galopp längst wieder beendet, und beide Seiten haben sich auf ihre Weise konsolidiert: „Die Presse“ als führende demokratische Zeitung Österreichs, Karl Marx als führender Denker der kommunistischen Bewegung. Der Berufsrevolutionär lebte im Londoner Exil und litt unter notorischen Geldnöten. Doch nicht er wandte sich an das Bourgeois-Blatt mit der Bitte um Mitarbeit, sondern es war die fixe Idee von „Presse“-Redakteur Max Friedländer, Marx als Londoner Korrespondenten zu engagieren.

Marx brauchte Geld

Eigentlich hätten beide Seiten wissen müssen, dass diese Liaison nicht gut ausgehen konnte. Doch der Emigrant brauchte dringend Geld, seine Bettelbriefe aus dieser Zeit sind bekannt, Friedländer wiederum schätzte die literarische Qualität der Zeitungsartikel von Marx. Da waren halt noch die heiklen Fragen zur Linie der Zeitung. Doch fand sich eine Lösung: Keiner der 52 Artikel, die Marx zwischen Oktober 1861 und Dezember 1862 in der „Presse“ veröffentlichte, erschien unter seinem Namen, er wurde nur als „berühmter deutscher Publicist“ vorgestellt.

Und worüber schrieb er? Vor allem über den amerikanischen Sezessionskrieg, die Rolle Großbritanniens darin, weiters über die üblen Sitten in der britischen Presse und über die britischen Arbeiterorganisationen. Da merkt man dann, dass kein Bürgerlicher schreibt. Friedländer mahnte, „stets auf ein österreichisches Bourgeoisie-Publikum Bedacht zu nehmen“. Willkommen seien auch Beiträge fürs Feuilleton – das sei weniger heikel.

Besonders geärgert hat sich Marx, dass es ihm immer weniger gelang, seine Artikel unterzubringen, er beschwerte sich bei Friedrich Engels, dass nur jeder vierte Artikel gedruckt werde. So wurde seine materielle Situation in der britischen Hauptstadt – damals das Zentrum des Kapitalismus – immer schlimmer. Die Zeitung schickte ihm für den Besuch der Londoner Weltausstellung 1862 ein Presseticket, um ihn bei Laune zu halten. Doch es erschien nie ein Artikel zu diesem Thema, vielleicht auch deshalb, weil er nicht das Geld hatte, sich die für den Besuch vorgeschriebene Garderobe zu kaufen.

Als Karl Marx 1883 starb, widmete ihm die „Neue Freie Presse“ zwar einen dreispaltigen Nachruf auf der ersten Seite, aber dass dieser „Socialist“ einmal Mitarbeiter der „Presse“-Redaktion gewesen war, erwähnte sie nicht. Man zieht den Hut „vor der Leiche eines so großen Gegners“, der es sich angemaßt hat, „mit dröhnenden Hammerschlägen die bürgerliche Gesellschaft zu zertrümmern“.

Schließlich der programmatische Satz: „Marx war der Vater jener Sozialdemokratie, mit der es keinen Frieden und keine Versöhnung gibt.“ Doch blättert man in den Ausgaben der „Neuen Freien Presse“, merkt man, dass von einem geradlinigen Kurs in dieser Frage nicht die Rede sein kann. Da gibt der Aufstand der Pariser Commune 1871 der Zeitung Gelegenheit zu einer Generalabrechnung mit dem sozialistischen Gedankengut: Hinter dem Sozialismus stecke kein vernünftiger Gedanke, die „ekelerregende Horde“ in Paris beweise, dass sich „die neue Proletarier-Sozietät nur auf rauchenden Trümmern entfalten“ könne. 

Mitte der 1880er-Jahre beginnt der Aufstieg der Christlichsozialen, der Antisemitismus wird hoffähig. War früher die Bundesgenossenschaft mit den Arbeitern für die liberale Zeitung nur ein Gedankenspiel, beginnt sie jetzt, geradezu für eine Koalition von Bürgertum und Arbeiterschaft zu werben. Die Sozialdemokraten sehen das als Doppelspiel.

Adler als „guter Geist“

Sehr freundlich schreibt die Zeitung in ihrem Nachruf auf Viktor Adler (12. November 1918): „An der Bahre des Dr. Viktor Adler dürfen alle Parteiunterschiede schweigen . . . Seine geschichtliche Aufgabe sah er nicht im Niederreißen, sondern im programmgemäßen Aufbau . . . Maßhalten, das Durchführbare ins Auge fassen und dann zielbewusst erstreben, war die Kunst, die ihn auszeichnete.“ Warum gar so freundlich? „Marx war ein Dämon“, schrieb die Zeitung einst, „Adler ein guter Geist.“ Man spürt die Erleichterung, man lässt jene Sozialdemokratie leben, die das Kapital leben lässt.

Heute verschafft die schwere Wirtschaftskrise und die Ratlosigkeit der Wirtschaftswissenschaften ideologischen Rezepten aus der Vergangenheit eine gewisse Konjunktur. Schließlich habe schon der alte Marx im 19. Jahrhundert beklagt, wohin das für den Kapitalismus so typische Profitstreben führe. Dieses merkwürdige Revival von Ideen aus dem vorvorigen Jahrhundert begleitet die „Presse“ mit Fassungslosigkeit: „Während sich also die Insassen postmarxistischer Völkerkerker nichts sehnlicher wünschen, als endlich in den wohlhabenden Westen zu entkommen, wird ebendort dem missverstandenen Marx nachgeweint.“ (Franz Schellhorn).

Man erinnert sich nochmals an den Nachruf auf Marx in der „Presse“. Er endet mit einer Prognose, die sich 1989, mehr als hundert Jahre später, erfüllen sollte: „Das Verderben, welches er schuf, wird vergehen wie seine Asche . . . und bald wird auch der Arbeiter erkennen, dass die Freiheit die sicherste Bürgschaft ist für den Wohlstand.“

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

165 Jahre Die Presse

1861: Der Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten

Der Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten
Sklavenemanzipation. Für die Sklavenhaltergesellschaft des Südens zählt nicht nur die Hautfarbe, sie sieht die arbeitende Klasse für die Sklaverei geschaffen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.