Belvedere. Der Staatsvertrag 1955 beendete eine zehn Jahre dauernde Besatzungszeit. Nach Bürgerkrieg und NS-Katastrophe war das Land nun wieder souverän.
[15. MAI 1955] Im Sommerschloss des Prinzen Eugen, im Belvedere, wird heute von den Außenministern der vier Großmächte und dem österreichischen Außenminister das Dokument unterzeichnet, das Österreich die Freiheit und Unabhängigkeit wiedergibt und mit dem Ende der Besatzung zugleich eine neue Epoche eröffnet.
s0;140Am 11. März 1938 verschwand Österreich von der Landkarte. Aber gleichzeitig begann an diesem Tag der innere Gesundungsprozess des österreichischen Volkes. Gerade der „Anschluss“ und seine Folgen ließen in den Menschen von Neusiedler- bis zum Bodensee, vom Böhmerwald bis zu den Karawanken, ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen, wie es vordem unbekannt war.
sDie Heimkehrer des Zweiten Weltkrieges kamen nicht mehr wie ihre Väter anno achtzehn in ein künstlich aufgezwungenes und fremdes Staatsgebilde, sondern in die durch Besetzung und Krieg jedem bewusst gewordene echte Gemeinschaft des österreichischen Vaterlandes zurück.
Auf diesen Grundlagen konnte die Zweite Republik ihre innere und äußere Existenz aufbauen. Eine Existenz allerdings, die trotz einer spontanen Bejahung durch das Staatsvolk und einer in früheren Jahrzehnten fast undenkbar erschienenen Zusammenarbeit aller maßgebenden politischen Gruppen und Faktoren, durch die vierfache Besetzung infrage gestellt war.
s-6;0Die Zonenschranken an der Enns und auf dem Semmering teilten ja nicht nur Österreich in zwei Teile, sie bildeten gleichzeitig die Grenzlinie einer in zwei Lager aufgespaltenen Welt. Der Machtkoloss der Sowjetunion hatte sich bis tief in das Herz Europas vorgeschoben und er schien immer weniger daran zu denken, die einmal erreichten Raumgewinne wieder aufzugeben. Das russische „Njet“, das durch mehr als 250 Sitzungen fast zehn Jahre lang die Fertigstellung des österreichischen Staatsvertrages und damit die Befreiung des Landes verhinderte, schien eine allmählich, dann aber definitive Teilung Österreichs vorzubereiten.
sDer nach Ministerpräsident Bulganin keineswegs gefühlsmäßig bedingte Moskauer Entschluss, Österreich freizugeben, ist in erster Linie auf die im letzten Jahr sich entwickelnden Verschiebungen der weltpolitischen Konstellation, vor allem im europäischen Raum, zurückzuführen. Österreich, in den letzten zehn Jahren zum bloßen Objekt der Weltpolitik degradiert, kam dabei glücklich zum Zuge. Dank einer günstigen weltpolitischen Konstellation, die seine Staatsmänner im richtigen Augenblick richtig zu nützen verstanden, aber auch dank seiner eigenen Beharrlichkeit im Kampf um die Freiheit, mit der es die vielen Gefahrenmomente seit 1945 immer wieder überwinden konnte.
Österreich hat sich den heutigen Freudentag, an dem die Großen der Welt das historische Dokument des Staatsvertrages im Schloss Belvedere unterzeichnen werden, redlich verdient. Es weiß aber, dass es seine teuer erkämpfte Freiheit als kleines Volk im Herzen Europas auch in Zukunft mit ganzer, von innerer Einigkeit getragener Kraft wachsam zu verteidigen bereit sein muss. Denn Österreichs Zukunft als freier Staat hat nun begonnen; uns fällt es zu, sie richtig zu gestalten.
Fritz Molden war 1953–1961 Chefredakteur der „Presse“.
("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)