Manifest. Aus den Erfahrungen kriegerischer Auseinandersetzungen entstand die Idee zur Auflösung der ständig umkämpften Grenzen in einem gemeinsamen Europa. Für Großbritannien und Russland schien in dieser Gemeinschaft kein Platz zu sein.
10. November 1922. Der Krieg hat die Gliederung der Welt verändert. Das alte System der Großmächte musste einem neuen System von Weltmächten weichen. Das kontinentale Europa von Portugal bis Polen wird sich entweder zu einem Überstaat zusammenschließen oder noch im Laufe dieses Jahrhunderts politisch, wirtschaftlich und kulturell zugrunde gehen. Misslingt der europäische Zusammenschluss, treibt Europa seine analytische und destruktive Politik fort, während die übrige Welt sich zu synthetisch-konstruktiver Politik bekennt, dann verfällt das zersplitterte Europa der Zukunft dem gleichen Schicksal wie das zersplitterte Deutschland der Vergangenheit.
Europas Stellung in der Welt gleicht Deutschlands Stellung in Europa: Die Folgen des Weltkrieges für Europa drohen die gleichen zu werden wie die des Dreißigjährigen Krieges für Deutschland. Wie damals deutsche Kurfürsten fremde Heere zum Kampf gegen ihre deutschen Brüder ins Land riefen, so warben jetzt europäische Völker Asiaten zum Kampf gegen ihre europäischen Mitvölker. Und wenn Europa sich nicht bald auf sich selbst besinnt, werden seine Völker zu ohnmächtigen Schachfiguren in den Händen der Londoner und Moskauer Machthaber herabsinken.
Ein einiges, freies Europa kann sich nur unter Ausschluss der beiden europäischen Weltmächte England und Russland bilden. Dass die Mutterländer jener beiden Weltreiche geografisch zu Europa zählen, darf nicht darüber täuschen, das sie politisch eigene Weltteile bilden.
Keine Nur-Deutsche, keine Nur-Franzosen
Im kommenden Europa dürfen keine Nur-Deutschen, keine Nur-Franzosen oder Nur-Italiener mehr herrschen - sondern Europäer, Männer von wahrhaft europäischer Kultur und Gesinnung. Wer sich bloß als Mitglied einer Sondernation fühlt, ist zu beschränkt zum Regieren. Die Politik solcher Menschen muss notwendig zu Konflikten führen, die Konflikte zum Krieg, der Krieg zum Chaos. Nur Paneuropäer sind fähig und berufen, Paneuropa aufzubauen. Europäisches Gemeinschaftsgefühl ist die notwendige Etappe zum Kosmopolitismus, weil über Paneuropa der Weg zum Weltbund führt.
Das größte Hindernis für die Bildung Paneuropas ist die deutsch-französische Rivalität; es kann erst zustande kommen, wenn diese beiden Völker auf ihre Hegemonieansprüche verzichten und sich in den Dienst ihres gemeinsamen größeren Vaterlandes stellen.
Das Problem der europäischen Staatsform ist eng verbunden mit der Frage des Zusammenschlusses. Die Verfassung des föderierten Europas müsste republikanisch sein, wie die der Vereinigten Staaten oder der Schweiz, frei nach innen, einig nach außen, getragen von Solidarität und Gleichgewicht.
Die innereuropäischen Grenzprobleme können nur durch die Schaffung Paneuropas gelöst werden. Solange in der öffentlichen Meinung Europas der Nationalismus vorherrscht, kann nicht von dessen demokratischen Regierungen die Initiative zur Schaffung Paneuropas ausgehen. Paneuropa muss erst in den Köpfen und Herzen seiner Völker lebendig werden, ehe es auf der Weltkarte entstehen kann.
Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi (1894–1972) war Schriftsteller, Politiker und Gründer der Paneuropa-Bewegung.
("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)