Wenn Volkes Stimme falsch entscheidet: Umstrittene Geschworene

Schattendorf-Folgen. Ein Fehlurteil wie jenes über die tödlichen Schüsse in Schattendorf, das zum Brand des Justizpalasts geführt hat, könnte heute zwar von Berufsrichtern ausgesetzt werden. Dass Entscheidungen der Geschworenen nicht begründet werden, belastet sie jedoch nach wie vor.

Samstag, der 16. Juli 1927, war für Leser der „Neuen Freien Presse“ ein ungewöhnlicher und ausgesprochen unangenehmer Tag. Ungewöhnlich, weil ihre Zeitung nicht erhältlich war; unangenehm, weil ein Generalstreik das Erscheinen praktisch aller Zeitungen – des unangefochtenen Massenmediums jener Zeit – verhinderte und kaum jemand wusste, was in Wien los war. Wildeste Gerüchte von tausend Toten, vom Einmarsch ungarischen oder italienischen Militärs, von einer Gefährdung der „Approvisionierung“, wie man die Lebensmittelversorgung nannte, gingen um. Es war der Tag nach jenem Freitag, an dem wütende Demonstranten den Justizpalast in Wien angezündet hatten und an dem 89 Menschen – überwiegend durch Kugeln der hart durchgreifenden Polizei – gestorben waren.

„Mörder von Schattendorf freigesprochen“


„Wohl noch selten hat sich so augenfällig erwiesen, welches machtvolle Instrument die Presse für die Aufrechterhaltung der Ruhe in aufgeregten Zeitläuften bildet“, schrieb die „Presse“ am Montag nach dem denkwürdigen Wochenende. Am Freitag noch hatte sich aufs Tragischste gezeigt, wie sehr ein Zeitungskommentar umgekehrt auch Konflikte schüren konnte: Friedrich Austerlitz, Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“, hatte in seinem Leitartikel das Urteil eines Geschworenengerichts massiv kritisiert. „Die Mörder von Schattendorf freigesprochen“, lautete die Überschrift, und Austerlitz – bis dahin ein großer Befürworter der Geschworenengerichtsbarkeit – beklagte wortreich, dass die ganze Rechtsprechung geschändet worden sei. Er schloss mit den düsteren Worten, die sich bald bewahrheiten sollten: „Aus einer Aussaat von Unrecht, wie es gestern geschehen ist, kann nur schweres Unheil entstehen.“

Was ist geschehen? Die Geschworenen sprachen die drei Angeklagten im Schattendorfer Prozess frei. Es ging um Schüsse, durch die am 30. Jänner 1927 im burgenländischen Ort Schattendorf der Kriegsversehrte Matthias Csmarits und der achtjährige Josef Grössing starben. Das geschah im erbitterten Kampf der Lager, als eine Gruppe sozialdemokratischer Schutzbündler nach einer Kundgebung zum Bahnhof marschierte und aus einem Gasthaus heraus von den gegnerischen Frontkämpfern beschossen wurde. Die Gastwirtssöhne Josef und Hieronimus Tscharmann und der Hilfsarbeiter Johann Pinter waren rasch verhaftet und gaben zu, geschossen zu haben. Die Eigenheiten der damaligen Geschworenengerichtsbarkeit verhinderten es aber, dass auch nur einer von ihnen verurteilt wurde: Weder für den Vorwurf der vorsätzlichen oder fahrlässigen Gemeingefährdung noch der vorsätzlichen Körperverletzung fand sich die damals benötigte Mehrheit von zwei Dritteln – also mindestens acht – der zwölf Geschworenen. Die Laienrichter, die übrigens überwiegend der Arbeiterschaft entstammten, waren angesichts der komplizierten Verästelung von dreimal neun Haupt-, Zusatz- und Eventualfragen heillos überfordert.

Während die Freisprüche für die Tscharmann-Brüder aus heutiger Sicht juristisch argumentierbar erscheinen – ihre Rechtfertigung, bloß in die Luft geschossen zu haben, konnte durch nichts widerlegt werden –, hätte Pinter zumindest der fahrlässigen Gemeingefährdung schuldig gesprochen werden können: Diese Meinung vertritt Friedrich Forsthuber, heute Präsident jenes Landesgerichts für Strafsachen, an dem 1927 das verhängnisvolle Fehlurteil gefällt wurde. Forsthuber hat voriges Jahr den Schattendorf-Prozess in seinem Haus nachspielen lassen und ist dabei zu interessanten Erkenntnissen gekommen: etwa zu jener, dass das Gutachten des Schießsachverständigen eindeutig ergeben hat, dass die tödlichen Kugeln aus der Waffe des Johann Pinter gekommen sind. Und dass dieser als Einziger nicht angegeben hat, in die Luft geschossen zu haben.s

Rechtsstaatlicher Makel bis heute geblieben

Zurück zum 15. Juli 1927: Angestachelt auch durch den Austerlitz'schen Leitartikel machen sozialdemokratische Arbeiter ihrem Ärger dadurch Luft, dass sie den Justizpalast als Symbol der „Klassenjustiz“ stürmen. Erst werden Akten angezündet, bald brennt das ganze Haus. Dass die Justiz für den falschen Wahrspruch der Vertreter des Volkes gar nicht verantwortlich gemacht werden kann, geht in der buchstäblich aufgeheizten Stimmung unter. Der Einsatz der berittenen Polizei und vollends der Schießbefehl treiben die Eskalation voran: 84 Zivilisten und fünf Polizisten sterben.

In manchen Punkten hat sich das Geschworenengericht mittlerweile gewandelt: So entscheidet heute die einfache Mehrheit, die Belehrung der Laien wurde verbessert, die drei Berufsrichter können auch krass falsche Freisprüche und nicht nur Schuldsprüche aussetzen. Ein Grundproblem, das nach Einschätzung von Forsthuber zur Tragödie 1927 beigetragen hat, besteht aber noch heute und belastet Urteile von Geschworenengerichten mit einem rechtsstaatlichen Makel: Sie müssen nicht begründet werden. Eine unter Justizministerin Claudia Bandion-Ortner eingesetzte Arbeitsgruppe entwickelte ein Konzept eines aus drei Berufsrichtern und sechs Laien zusammengesetzten Gerichts, das eine Ausformulierung der Begründung ermöglicht hätte. Eine Zeit lang sah es aus, als würde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das verlangen, doch hat seine Große Kammer ein entsprechendes Urteil gegen Belgien revidiert. Der Reformvorschlag für Österreich ist im Parlament versandet.

Positiv fortgewirkt hat indessen eine ganz persönliche, ja familiäre Verbindung zu Schattendorf: Staatssekretär Josef Ostermayer kommt nicht nur von dort, sondern ist auch der Enkel der Schwester des damals erschossenen Josef Grössing. Ostermayer weiß also aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, ein Opfer eines blutigen politischen Konflikts in der Familie zu haben. Seine Glaubwürdigkeit bei der Vermittlung im Kärntner Ortstafelstreit hat dadurch nicht eben gelitten.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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