Atatürk und Erdoğan, die repressiven Reformer

Türkei. Für den Premier ist der Staatsgründer Idol und Reibebaum zugleich. Beide zeig(t)en einen ausgeprägten Hang, ihren Bürgern Vorschriften zu machen, nur unter umgekehrten Vorzeichen.Interview mit Atatürk. Mustafa Kemal Pascha, der Gründer der modernen Türkei, über die Schaffung der türkischen Republik und das schon damals schwierige Verhältnis zu Europa.

Seit Mustafa Kemal Pascha, der sich ab 1934 Atatürk nennen ließ, hat keiner die Türkei derart revolutioniert wie Recep Tayyip Erdoğan. Der gegenwärtige Premier und der 1938 verstorbene Staatsgründer haben vieles gemeinsam: das Charisma, die Herkunft aus armen Verhältnissen, die rhetorische Urgewalt, die autokratischen Züge und den Willen, die Türkei zu modernisieren und zu neuer Größe zu führen. Ihr Weltbild jedoch unterscheidet sich fundamental. Für Erdoğan ist Atatürk, der „Vater der Türken", Vorbild und Feindbild zugleich.

In den inzwischen abgeflauten Protesten der vergangenen Wochen marschierte Atatürk mit, auf Fahnen und Plakaten der Demonstranten. Die Gegner Erdoğans, zumal die Anhänger der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), beschworen den Geist ihres Partei- und Staatsgründers. Aus gutem Grund, denn der Premier hat seit seinem Amtsantritt 2003 Bastionen und Glaubenssätze des Kemalismus frontal attackiert.

Atatürk wollte die türkische Gesellschaft nach

Ausrufung der Republik am 29. Oktober 1923 brachial säkularisieren und europäisieren. Er löste das Kalifat auf, brach das Primat der Religion, schrieb seinem Volk ein neues Alphabet und sogar eine Kleiderordnung vor. Das islamisch-orientalische Erbe empfand der Reformer als Hypothek; deswegen drängte er es zurück. Atatürk verabreichte seinem Volk eine kulturelle Wurzelbehandlung. Die Schmerzen wirkten noch Jahrzehnte nach, bis Erdoğan kam. Er verstand den Islam nicht als Bremsblock, sondern schöpfte seine Kraft daraus. Das brachte ihn erst ins Gefängnis, dann an die Macht. Erdoğan, ein begnadeter Populist, appellierte direkt ans Volk, präsentierte sich als kraftvolle Alternative zum erstarrt- korrupten kemalistischen System. Seine AKP fegte bei den Wahlen 2002 die alte Eliten weg, weil sie einen Neuanfang versprach, mehr Freiheit, sowohl religiöse als auch ökonomische. Unter seiner Regierung boomte die Türkei, Jahr für Jahr wuchs die Wirtschaft um mindestens fünf Prozent. Das beflügelte Erdoğan und seine Gefolgsleute, die außen- und innenpolitisch immer selbstbewusster agierten.

sViermal hat die Armee seit 1960 geputscht, einmal auch gegen Erdoğans Mentor, den Islamisten Necmettin Erbakan. Die Generäle sahen sich als Gralshüter des Kemalismus, doch der AKP-Führer schickte sie zurück in die Kasernen. Er entmilitarisierte und demokratisierte damit auch die Türkei, ganz im Sinn der EU, die auch Applaus für den Ausgleich mit den Kurden spendete. Auch das war ein befreiender Bruch mit den Kemalisten, die in ihrer Angst um die Einheit der türkischen Nation alles Kurdische unterdrückt hatten.

Islamisches Programm vorangetrieben

Gleichzeitig aber trieb der „neue Sultan" sein islamisches Programm voran, ließ das Kopftuchverbot aufheben, stärkte die religiösen Schulen. Und er begann ähnlich wie Atatürk, nur unter umgekehrten Vorzeichen und weniger brutal, Bürgern Vorschriften zu machen, empfahl den Frauen, viele Kinder zu bekommen, und schränkte den Ausschank von Alkohol ein. Das jedoch ließ sich genau jene Mittelklasse nicht mehr gefallen, der Erdoğan mit seiner Liberalisierung zu neuer Blüte verholfen hatte. Der aufgestaute Unmut entzündete sich vor vier Wochen an einem nicht vorhersehbaren Ort: Im Gezi-Park in Istanbul formierte sich der Widerstand gegen ein Bauprojekt. Erdoğan reagierte autoritär, mit Tränengas und der Diffamierung der Demonstranten als „Terroristen". Der Reformer, der Anti-Atatürk, zeigte aller Welt seine repressive Seite.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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