Brasilien ist Gastland der heurigen Frankfurter Buchmesse. »Die Presse am Sonntag« hat die Krimiszene des Landes unter die Lupe genommen und ein echtes Highlight gefunden.
Es ist kein Zufall, dass die brasilianische Autorin Patrícia Melo im Dank am Ende ihres Buches „Leichendieb“ ihren Autorenkollegen Rubem Fonseca erwähnt. Denn die beiden gelten als die wichtigsten Vertreter des „Brazilian Noir“. Dabei ist der mittlerweile 88-jährige Fonseca im deutschsprachigen Raum in Vergessenheit geraten. Sein sozialkritischer Krimi „Mord im August“, der sich rund um den Selbstmord des damaligen brasilianischen Präsidenten Getúlio Vargas im Jahr 1954 dreht, wurde zuletzt 2004 aufgelegt.
Auch Melo wurde in letzter Zeit eher vernachlässigt, obwohl sie 1998 mit dem Killerroman „O Matador“ den Deutschen Krimipreis gewinnen konnte. Zuletzt wurde 2005 „Schwarzer Walzer“ auf Deutsch publiziert. Ihre zwei nachfolgenden Bücher wurden hingegen ignoriert. Im Jahr des Brasilien-Schwerpunkts auf der Frankfurter Buchmesse hat sich nun aber der Tropen Verlag gefunden und „Leichendieb“ verlegt. Ein Glücksgriff, wie sich schnell gezeigt hat: Die 50-jährige Melo führt im Juli bereits zum zweiten Mal in Folge die „KrimiZeit“-Bestenliste an. Die „Times“ hat sie überhaupt als die „führende Schriftstellerin des Millenniums“ in Lateinamerika bezeichnet.
Weniger ist mehr. Ihr Buch „Leichendieb“ hat gerade einmal 200 Seiten, aber spätestens seit James Sallis („Driver“, „Driver 2“) weiß man, das weniger oft mehr sein kann. Dabei ist es unglaublich, wie viele wahnwitzige Wendungen die Autorin in die Geschichte packt. Und Melo erzählt auch zwischen den Zeilen. Nicht zufällig bleibt der Icherzähler namenlos. Der einzige Beiname, den er im Verlauf der Geschichte erhält, lautet ausgerechnet „porco“ das Schwein.
Melo versteht es, die Balance zwischen Ironie und Realismus zu halten. Auf äußerst unterhaltsame Weise und mit einer ausreichenden Portion Humor erzählt sie die Geschichte eines absolut unmoralischen Mannes, der sich keiner Ausrede zu schade ist, um sein längst nicht mehr zu rechtfertigendes Handeln schönzureden. Er wird zum Verbrecher, will aber weiter der gute Mensch von nebenan sein. Das liest sich erfrischend grotesk.
Alles beginnt mit einem Flugzeugabsturz. Als der Erzähler den Piloten aus dem Wrack retten will, stirbt dieser. Der verhinderte Retter entdeckt daraufhin Drogen, die er mitgehen lässt. Aber nicht nur die: „Ich weiß nicht, wer das gesagt hat, aber es stimmt absolut, der Mensch ist nicht lange ehrlich, wenn er allein ist. Aus demselben Grund nahm ich dem Piloten auch die Armbanduhr ab und verschwand.“ Moralisches Problem hat er damit nicht, er hat ja niemanden getötet. Eine Rechtfertigung, die öfters wiederkehrt.
Melo entlarvt aber nicht nur den Erzähler als scheinheiligen Heuchler, sondern kritisiert gleichzeitig auch das flächendeckende korrupte System, das sich im ganzen Land ausgebreitet hat. Dieses macht nicht einmal halt vor den Toten. Denn Korruption kennt keine Pietät.
Ein anderer brasilianischer Autor übrigens dürfte Krimilesern heuer noch einen weiteren Leckerbissen servieren. Ende August erscheint im Limes-Verlag mit dem Roman „Der letzte Tag der Unschuld“ das Debüt von Edney Silvestre, einem bekannten Journalisten und Fernsehmoderator. Er entführt in das Brasilien des Jahres 1961: An dem Tag, an dem Juri Gagarin die Erde umrundet, entdecken die beiden Buben Paulo und Eduardo eine Frauenleiche. Die Polizei betrachtet den Fall rasch als gelöst, doch die beiden erhalten schon bald Hilfe von einem alten Mann, der einst von der Geheimpolizei gefoltert wurde.
„Wer tötet, ist Gott“. Auch beim Verlag Klaus Wagenbach gibt es einen Brasilien-Schwerpunkt. „Sargento Getúlio“ von João Ubaldo Ribeiro ist zwar eigentlich kein Kriminalroman, sein innerer Monolog eines obrigkeitshörigen und überforderten Soldaten liest sich aber fesselnd. In Ribeiros Buch, das sich drastischer Bilder bedient, steht die Selbstverleugnung des Helden – ähnlich wie bei Melo – im Vordergrund. „Tárcio sagte: Ich mache nur die Löcher, wer tötet, ist Gott.“ So einfach könnte es sein.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2013)