Gefängnis-Chefin: Sexuelle Gewalt "kann wieder passieren"

Margitta Neuberger-Essenther,
Margitta Neuberger-Essenther,(c) Clemens Fabry
  • Drucken

Margitta Neuberger-Essenther, Chefin der Justizanstalt Gerasdorf (NÖ), des einzigen Jugendgefängnisses Österreichs, erklärt die Missbrauchshandlungen unter Häftlingen als Unterwerfungsrituale.

Die Presse: Vier Fälle, in denen jugendliche Gefängnisinsassen ihre Mithäftlinge missbraucht haben, sind seit Jahresbeginn offiziell bekannt geworden. Die Tatbestände muten grausam und bizarr an: Jugendliche vergewaltigen andere Jugendliche mit Besenstielen – warum geschieht so etwas?

Margitta Neuberger-Essenther: Das sind Unterwerfungsrituale. Diese Handlungen bedeuten: einem anderen klarmachen, wer das Sagen hat und wer der Diener ist. Es handelt sich um sexuelle Misshandlungen, aber nicht um Vergewaltigungen im eigentlichen Sinn. Das sieht auch der Bursche so, der in der Justizanstalt Wien-Josefstadt einen 14-jährigen Mithäftling sexuell misshandelt hat. Er wurde zu mir verlegt und hat mir gesagt, dass er seine Tat als reine Machtdemonstration sieht, nicht als Vergewaltigung.

Ist Gewalt unter Jugendlichen im Gefängnis alltäglich?

Wo fängt Gewalt an? Es gibt körperliche, psychische, sexuelle und verbale Gewalt. Die verbale Gewalt ist vielleicht alltäglich. Die Bemerkung: „Deine Mutter ist eine Hure“ fällt häufig. Körperliche Gewalt ist sicher nicht alltäglich. Wie oft sie passiert, kann ich nicht schätzen.

Heißt das, es ist nur eine Frage der Zeit, bis der nächste sexuelle Missbrauch stattfindet?

Es kann wieder passieren. Wir haben es mit pubertierenden Jugendlichen zu tun, die nicht gelernt haben, mit ihren Frustrationen umzugehen. Manche der Insassen (als Jugendliche gelten Insassen ab dem 14. bis zum 18.Geburtstag, Anm.) haben eine sehr hohe Frustrationsschwelle, manche aber eine sehr niedrige.

Gibt es im Gefängnis bestimmte Hierarchien unter den Insassen?

Es gibt Hierarchien. Wir selber versuchen Hierarchien aufzustellen: positive Hierarchien. Es gibt zum Beispiel einen Insassensprecher, der auch beim Personal, bei der Justizwache, hohes Ansehen hat. Wer gute Erfolge hat, wer also zum Beispiel in Haft eine Lehre macht, steht in der Hierarchie ganz oben. Aber wir leben hier auch in einer Subkultur. Es gibt Zwang unter den Insassen. Wir haben zum Beispiel einmal in der Woche Ausspeise, das heißt, die Burschen (in Gerasdorf sind nur männliche Jugendliche, Anm.) können sich Lebensmittel kaufen. Da kann es dann heißen, dass einer dem anderen anschafft: „Du kaufst das für mich um Dein Geld und gibst es mir dann.“ So etwas versuchen wir natürlich zu unterbinden.

Ein Haftraum der Justizanstalt Gerasdorf, in der sich derzeit 91 jugendliche – durchwegs männliche – Gefangene befinden. Sämtliche Insassen sind in Einzelzellen untergebracht. (Archivbild aus dem Jahr 2008).
Ein Haftraum der Justizanstalt Gerasdorf, in der sich derzeit 91 jugendliche – durchwegs männliche – Gefangene befinden. Sämtliche Insassen sind in Einzelzellen untergebracht. (Archivbild aus dem Jahr 2008).(c) Fabry

Was muss sich ändern?

Die Gesellschaft muss sich ändern. Die Politik muss sich ändern. Wir müssen uns überlegen, ob wir so viele Jugendliche (124 sind es derzeit bundesweit, davon 91 in Gerasdorf, Anm.) einsperren müssen. Oder ob wir nicht mehr Jugendliche bei ihren Familien belassen oder in sozialarbeiterisch und sozialpädagogisch betreute Wohneinheiten eingliedern. Und sie dort wohl mit elektronischen Fußfesseln überwachen. Wenn eine solche Wohngemeinschaft wie eine Familie aufgestellt ist, brauchen wir die Fußfesseln vielleicht gar nicht. Jene Jugendlichen, die im Maßnahmenvollzug sitzen (eine unbefristete Einweisung in eine geschlossene Anstalt gilt als „Maßnahme“, nicht als Strafe, die Betroffenen befinden sich aber ebenfalls in einem bestimmten Bereich der Haftanstalt, Anm.), haben ihre Strafe zum Teil schon vor Jahren abgesessen und sind immer noch bei uns. Obwohl der Vollzug ihre Bedürfnisse nicht abdecken kann. Diese jungen Männer gehören gar nicht in eine Haftanstalt, sondern in eine psychiatrisch betreute Wohngemeinschaft. Aber ich bringe sie einfach nicht an. Keiner nimmt sie mir ab.

Für die Häftlinge selbst brauchen Sie wohl mehr Personal...

...die Justizwache bemüht sich redlich. Aber jemand, der zuerst Kfz-Mechaniker ist und dann zur Justizwache wechselt, hat eben keine spezialisierte Ausbildung. Die Arbeit in der Anstalt ist aber in Wahrheit ein Sozialberuf.

Sie haben eine einzige Sozialpädagogin. Wie viele bräuchten Sie wirklich?

Mindestens zwölf.

Sie plädieren für Alternativen zur Haft. Was halten Sie dann vom Neubau eines großen Gefängnisses im Raum Wien, wie dies Justizministerin Beatrix Karl nun erneut ankündigte?

Baue Gefängnisse und Du wirst sie befüllen.

Haben Sie so etwas wie eine Botschaft?

Wir müssen besser auf unsere Kinder schauen – und zwar, bevor sie im Gefängnis sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.07.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Jugendstrafvollzug: "Task Force" tritt zusammen
Österreich

Jugend-U-Haft: "Task Force" prüft jeden einzelnen Fall

55 Jugendliche sitzten in Österreich derzeit in U-Haft. Eine von der Justizministerin einberufene Expertengruppe prüft nun einzeln, ob die U-Haft nötig ist.
Jugendstrafvollzug Fischer fuer moderne
Österreich

Jugendstrafvollzug: Fischer für "moderne Auffassungen"

Das Staatsoberhaupt hält langfristige Überlegungen für nötig. Jugendliche sollten jedenfalls nicht mit Erwachsenen gemeinsam in Haft sein.
HEINISCH-HOSEK
Innenpolitik

Jugendstrafvollzug: Nun doch mehr Personal möglich

Beamten-Ministerin Gabriele Heinisch-Hosek dürfte bei der Frage nach mehr Justizpersonal nachgeben.
Suizid Totale Beobachtung unmoeglich
Wien

Suizid: "Totale Beobachtung unmöglich"

Ein 18-jähriger Häftling des Jugendgefängnisses Gerasdorf erhängte sich in seiner Zelle. Der tragische Fall befeuert die Debatte um Missstände im Strafvollzug.
Psychisch krank eingesperrt
Wien

Psychisch krank und eingesperrt

Haft. Besonders bei jungen Häftlingen ist der Anteil psychisch Kranker hoch. Die Zahl der geistig abnormen Rechtsbrecher im „Maßnahmenvollzug“ steigt seit Jahren.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.