Ein 18-jähriger Häftling des Jugendgefängnisses Gerasdorf erhängte sich in seiner Zelle. Der tragische Fall befeuert die Debatte um Missstände im Strafvollzug.
Als wäre ein Suizid nicht tragisch genug, trug sich dieser vor dem Hintergrund der Debatte um Versäumnisse in der Jugendhaft zu: Donnerstagabend erhängte sich ein 18-jähriger Häftling in der Justizanstalt Gerasdorf, Niederösterreich. Ein Justizwachebeamter, der um 19.30Uhr einen Kontrollgang machte, fand den Toten. Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos.
„Ich bin sprachlos“, sagte am Freitag eine spürbar schockierte Anstaltsleiterin: Margitta Neuberger-Essenther fügte aber an, dass der Suizidfall „in keinem Zusammenhang mit den aktuellen Problemen“ stehe. Der 18-Jährige sei depressiv gewesen. Schon seine Kindheit und Jugend seien „von Suizidversuchen“ geprägt gewesen. Er sei dementsprechend psychiatrisch betreut worden.
In Haft war der Jugendliche, weil er wegen Einbruchsdiebstählen eine sechsmonatige Freiheitsstrafe verbüßte. Sein Entlassungstermin war der 19.September. Die noch abzusitzende Zeit war also durchaus überschaubar. Allerdings blickte der 18-Jährige einem weiteren Prozess im Landesgericht für Strafsachen Wien entgegen – „wieder wegen Eigentumsdelikten“, hieß es am Freitag aus der Strafvollzugsdirektion.
Mithäftling als Helfer in der Not
Also weder überbelegte Hafträume noch Misshandlungen durch Mithäftlinge können der unmittelbare Auslöser für den Suizid gewesen sein. Der Bursch war bis vor Kurzem sogar mit einem sogenannten Listener (Zuhörer) in einem Haftraum untergebracht. Dabei handelt es sich um einen von Psychologen ausgesuchten Mithäftling. Wenn sich ein solcher bereit erklärt, sich um kritische Fälle zu kümmern, (nächtliche) Gespräche zu führen etc., dann wird er gemeinsam mit dem ihm anvertrauten Insassen in einer Zelle angehalten. Die Listener-Zelle wird kameraüberwacht. In anderen Hafträumen ist das aus rechtlichen Gründen nicht durchführbar. Neuberger-Essenther: „Totale Beobachtung, totale Observation ist nicht möglich.“
Kurz vor dem Suizid wechselte der 18-Jährige wieder in seine Einzelzelle. Dort wurde er am Donnerstag um 18 Uhr von der Justizwache eingeschlossen. Danach sprach er noch von Fenster zu Fenster mit seinem Zellennachbarn. „Nichts deutete auf die Tat hin“, sagt die Anstaltsleiterin.
Derzeit ist jener Bursch mit dem Listener in einer Zelle, dem vorgeworfen wird, in der Anstalt Wien Josefstadt einen 14-Jährigen mit einem Besenstiel sexuell missbraucht zu haben. Auch dieser Häftling, ein 17-Jähriger, gilt mittlerweile als suizidgefährdet.
Erst kürzlich hat Neuberger-Essenther im „Presse“-Interview „mindestens zwölf“ Sozialpädagogen für die Anstalt gefordert. Derzeit ist dort eine einzige Sozialpädagogin beschäftigt. Die psychiatrische Betreuung wird von einer (einzigen) Psychiaterin in 24 Wochenstunden erledigt. Geht es nach Neuberger-Essenther, müssten „60 Wochenstunden“ geleistet werden. Dafür würde man freilich zwei Kräfte brauchen. Trotzdem: Der jüngste Suizid sei nicht auf erkennbare Mängel zurückzuführen. 91 Häftlinge sind derzeit in Gerasdorf untergebracht. Anfang Jänner hat sich ebendort, wie berichtet, einer jener vier österreichweit registrierten Missbrauchsfälle unter Insassen ereignet, die zu der nun breit geführten Debatte um den Jugendstrafvollzug geführt haben.
Im statistischen Durchschnitt gibt es insgesamt laut den Aufzeichnungen der Strafvollzugsdirektion seit dem Jahr 2001 durchschnittlich elf Suizidfälle hinter Gittern. In dieser Zeitreihe fällt das Jahr 2001 mit den meisten, mit 15 Fällen, auf. 2008 waren die wenigsten, nämlich sechs, zu beklagen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2013)