Haft. Besonders bei jungen Häftlingen ist der Anteil psychisch Kranker hoch. Die Zahl der geistig abnormen Rechtsbrecher im „Maßnahmenvollzug“ steigt seit Jahren.
Wien/Cim. Der junge Häftling, der sich am Donnerstagabend in Gerasdorf erhängt hat, ist kein Einzelfall. Psychisch krank oder in einer psychischen Ausnahmesituation und in Haft – gerade bei Jugendlichen dürfte das auf einen Großteil der Häftlinge zutreffen. In einer Studie, für die von 2003 bis 2005 hunderte Insassen der Jugendabteilung in der Josefstadt untersucht wurden, heißt es, 90Prozent der jugendlichen Häftlinge seien als psychisch krank einzustufen. Die Häftlinge wiesen posttraumatische Belastungsstörungen auf, litten an Depressionen, drei Viertel der weiblichen und die Hälfte der männlichen Jugendlichen waren substanzabhängig. 30Prozent haben sexuellen Missbrauch erfahren.
Die Zahl der Pädagogen, Therapeuten, Psychologen und Sozialarbeiter, die im Vollzug arbeiten, nimmt hingegen ab. Auf einen Psychologen oder Sozialarbeiter komme oft eine dreistellige Zahl an Häftlingen, wie die „Allianz gegen Gleichgültigkeit“ zuletzt beanstandete. Zu dieser Allianz haben sich jüngst Caritas, Weißer Ring, der Kinderpsychiater Ernst Berger und Rechtsexperten zusammengetan. Sie fordern ein Aufstocken dieser Kapazitäten.
Auch bei Erwachsenen sind psychisch kranke Häftlinge ein wachsendes Problem. Die Zahl jener Häftlinge, die im sogenannten Maßnahmenvollzug untergebracht sind, ist in den vergangenen 20Jahren stetig gestiegen. Zum Stichtag 1.Juni 2013 waren 812 Menschen aufgrund § 21 im StGB in Justizanstalten und der Psychiatrie untergebracht. Die Zahl der Einweisungen geistig abnormer Rechtsbrecher habe sich laut Justizministerium seit Beginn des Jahrtausends etwa verdoppelt.
Mehr Zurechnungsfähige
Die Justiz unterscheidet dabei zwischen zwei Gruppen geistig abnormer Rechtsbrecher: jene nach § 21 Abs. 1, die als unzurechnungsfähig gelten (414Personen), und jene nach Abs. 2, die als zurechnungsfähig gelten (406 Häftlinge). Besonders die Zahl der Zurechnungsfähigen wächst. „Da geht es nicht um psychisch kranke Menschen, die medikamentös behandelt werden können, sondern um die mit einer massiven Störung der Persönlichkeit oder mit sexuellen Perversionen“, sagt Gerichtspsychiaterin Adelheid Kastner. „Die Allergefährlichsten, vor denen man die Gesellschaft schützen muss, und bei denen sich die Frage stellt: Wie weit sind sie therapierbar?“
Bei diesen Tätern werden die Gerichte immer vorsichtiger. Bei so gut wie allen Sexualstraftätern, so Kastner, stellen Gerichte heute die Frage, ob der Angeklagte dieser Kategorie entspricht. Und die Antwort sei häufiger ja als nein, sagt Kastner und spricht von einer „Hysterisierung“. Aktuell sitzt rund jeder zweite zurechnungsfähige geistig abnorme Rechtsbrecher wegen eines Sexualdelikts im Maßnahmenvollzug. Dieser gilt als härteste Maßnahme, können Straftäter dort doch unbegrenzt festgehalten werden, wenn bei den jährlichen Untersuchungen attestiert wird, dass eine Gefahr von ihnen ausgeht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2013)