Studie: Wie gut macht Harry Potter?

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macht Harry Potter(c) EPA (Jan-Peter Kasper)
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Fans der Harry-Potter-Romane sind toleranter, sagt eine amerikanische Studie. Haben wir endlich den Beweis dafür gefunden, dass Literatur uns besser machen kann?

Mit J.K. Rowling hätte sich Friedrich Schiller wohl gut verstanden. Denn es gibt Hinweise darauf, dass Harry Potter die Welt einem Traum des Dichters näher gebracht hat: einer Literatur, die die Menschen „durch eine allwebende Sympathie verbrüdert“, „gerechter gegen den Unglücklichen“ macht und „nachsichtsvoller“ im Urteil. Einer Literatur, die „nur einer Empfindung Raum“ lasse – nämlich jener, „ein Mensch zu sein“.

Der amerikanische Politologe Anthony Gierzynski hat eine Umfrage unter 1.141 Collegestudenten gemacht und das Ergebnis im Buch „Harry Potter and the Millennials“ („Harry Potter und die Jahrtausender“) veröffentlicht. Harry-Potter-Fans sind demnach toleranter, mehr egalitär und weniger autoritär eingestellt, lehnen Gewalt und Folter stärker ab, sind eher skeptisch, zugleich weniger zynisch. Die Autoren betonen: Dieses Ergebnis kommt nicht zustande, wenn man einfach nur Viel- und Wenigleser vergleicht. Eine eindeutige Korrelation bestehe zwischen den politischen Ansichten der Studenten und den Harry-Potter-Romanen.

Die „Jahrtausender“. Haben diese also die politischen Einstellungen der sogenannten „Jahrtausender“ mitgeformt, die um das Jahr 2000 Teenager waren? Hat hier direkt Hermines Befreiungsfront gegen die Elfendiskriminierung gewirkt, Harrys Weigerung, den bösen Voldemort umzubringen, oder sein Widerstand gegen die ungerechte, autoritäre Internatsleiterin Umbridge? Haben wir endlich eine Antwort auf die Frage, ob Literatur uns besser macht?

Ja, das tut sie, indem sie Mitleid mit dem Leidenden weckt, hätte Lessing gesagt (und Furcht, dasselbe Schicksal zu erleiden). Ja, das tut sie, weil sie unser Mitgefühl erweitert, hätte George Eliot gesagt. Ja, das tut sie, weil sie uns das Eingehen auf die Not des Mitmenschen lehrt, die wichtigste Arbeit des Lebens, würde es vielleicht Jonathan Safran Foer formulieren. Aber ist die Harry-Potter-Studie ein Beweis? Haben die Studenten ihre Ansichten, weil sie Harry Potter gelesen haben? Oder haben sie Harry Potter gelesen, weil sie diese Ansichten hatten? Die Henne-Ei-Frage bleibt unbeantwortet.

Geht es nach dem Philosophieprofessor Gregory Currie, ist das typisch. Es gebe kaum Belege für den moralischen Nutzen großer Literatur, verkündete er Anfang Juni in der „New York Times“. Und rief zu eingehender psychologischer Forschung auf.

Lesen und Emotion. Doch, einiges haben die Wissenschaftler herausgefunden. Zum Beispiel, dass es für unsere Ansicht zu einem Thema nicht egal ist, ob wir damit durch eine Erzählung oder einen abstrakten Bericht konfrontiert werden. Studenten, die eine Geschichte über das schwierige Leben einer Frau in Algerien lasen, empörten sich mehr über die Unterdrückung als jene, die einen abstrakten Essay über die dortige Frauendiskriminierung lasen. Ein anderes Beispiel: Leser von Tschechows Werk „Die Dame mit dem Hündchen“ zeigten mehr kurzfristige Veränderungen von Persönlichkeitsmerkmalen (übrigens unterschiedlichster Art) als jene, die die Geschichte mit gleichen Infos und in gleicher Länge als Prozessbericht lasen, auch wenn der Bericht als ebenso interessant eingestuft wurde. Und: Beim Lesen eines Romans sind zu einem großen Teil dieselben Hirnregionen aktiv wie beim sozialen Lernen.

„Lesen ist das einzige Mittel, mit dem wir in die Haut, die Stimme, die Seele eines anderen gleiten“, sagt Joyce Carol Oates. Es fördert eindeutig die Fähigkeit, die Welt aus der Sicht anderer zu sehen. Je mehr Geschichten man Kindern vorlas, desto besser konnten sie die Absichten anderer erkennen. Die bekannte US-Philosophin Martha Nussbaum glaubt, dass allein durch diese Empathieschulung gute Literatur besser mache, unabhängig von der „Botschaft“. Außerdem fördere Literatur moralische Komplexität und mache so fit für die Zwischentöne der Realität.

Aber macht Empathie per se besser, egal, was ein Buch an Werten vermittelt? Mit sozialer Intelligenz kann man auch gut betrügen. Und ist komplexeres Denken per se eine moralische Qualität? Manchmal ist eine simple Regel wie die, dass man auf der Straße liegenden Menschen helfen soll, hilfreich, die Kenntnis aller psychologischen und sonstigen Ursachen dagegen sogar hinderlich; das Märchen vom Mädchen mit den Sterntalern besser als Tom Wolfes „Fegefeuer der Eitelkeiten“.

Indem Literatur einen in eine Geschichte und ihre Figuren hineinzieht und die Grenzen der eigenen Persönlichkeit aufweicht, macht sie beeinflussbar. In welche Richtung, hängt aber von Inhalt, Lesedosis, vor allem aber dem Leser selbst ab.


Das „tiefe Lesen“. Aber vielleicht ist die ganze Diskussion überflüssig. Denn um überhaupt zu bewegen, muss Literatur gelesen werden, wie man nur Literatur lesen kann: tranceartig versinkend. Dieses „tiefe Lesen“ ist nicht angeboren, sondern in langem, lustvollem Üben erlernt. Man kann es auch verlernen.

Unzählige Leser haben „Harry Potter“ auf diese vom Aussterben bedrohte Art gelesen, noch dazu im Alter, in dem sich politische Ansichten herausbilden. Den letzten Beweis für die politische Wirkung von „Harry Potter“ mag die Studie schuldig geblieben sein. Trotzdem: Sehr wahrscheinlich hat sie recht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2013)

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