Wie rassistisch sind die USA?

Mordfall Trayvon Martin
Mordfall Trayvon Martin(c) REUTERS (JONATHAN ALCORN)
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Nach dem Freispruch im Mordfall Trayvon Martin werfen viele Schwarze dem US-Justizwesen versteckten Rassismus vor. Sie gehen in den großen Städten des Landes auf die Straße.

Washington. Im Sommer 1955 betrat ein 14-jähriger Schwarzer namens Emmett Till einen Drugstore im Örtchen Money, Mississippi, um Süßigkeiten zu kaufen. Kurz darauf war er tot: von weißen Rassisten aus dem Bett gezerrt, verprügelt, ein Auge ausgestochen und erschossen. Der Grund: Till soll mit der weißen Frau des weißen Geschäftsinhabers geflirtet haben.

Im Februar 2012 betrat ein 17-jähriger Schwarzer names Trayvon Martin einen Drugstore im Örtchen Sanford, Florida, um Süßigkeiten zu kaufen. Kurz darauf war er tot: von einem Hobbypolizisten bei einer Rauferei erschossen. Der Grund: Martin trug einen Kapuzenpullover und war neu in einem weißen Viertel.

In beiden Fällen gab es keine Schuldsprüche für die Täter. George Zimmerman habe Trayvon Martin im Februar 2012 in Selbstverteidigung erschossen, befanden die sechs Geschworenen (allesamt Frauen, fünf davon weiß) am Sonntag. Emmett Tills Mörder wurden 1955 nicht einmal angeklagt.

Wird Amerika also von seiner rassistischen Erbsünde eingeholt? Gelten im fünften Amtsjahr des ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten für Schwarze wieder besondere Gesetze – und, wenn sie Pech haben, das Faustrecht? Tausende Demonstranten trugen diesen Vorwurf auf die Straßen aller großen Städte der USA. Heute, Dienstag, trifft US-Justizminister Eric Holder führende schwarze Bürgerrechtler in Orlando, um den Fall zu besprechen.

Neue Art von Rassismus

Till 1955 und Martin 2013: Rassismus spielte bei beiden Taten eine entscheidende Rolle, hält Elijah Anderson, Soziologieprofessor von der Yale University, in einem Essay für „The Washington Monthly“ fest. Doch der Rassismus habe sich in den sechs Jahrzehnten seit Tills Lynchmord wesentlich geändert. Die Mörder von Emmett Till seien 1955 von der Idee fanatisiert worden, „dass Schwarze eine naturgemäß minderwertige Rasse sind, eine moralische Nichtgruppe, die sowohl die Unterwerfung als auch die Armut verdient hat, die sie bekommt“. Heute hingegen drücke sich Rassismus „in der Stereotypie aus, dass alle Schwarzen aus dem Ghetto kommen und darum mit der Amoralität, Gefahr, Kriminalität und Armut des Ghettos verbunden sind.“

Der lange Schatten des Ghettos

Der lange Schatten des Ghettos verfolgt viele Afroamerikaner auf ihrem stetigen Marsch in die Mittelschicht und weiter hinauf. „Hätte ich einen Sohn, würde er wie Trayvon aussehen“, sagte Barack Obama nach Bekanntwerden des Falls. Der Präsident meinte das als Zeichen seiner Solidarität mit dem Opfer und seinen Eltern. Doch seinen politischen Aufstieg bis ins Weiße Haus verdankt er dem Umstand, dass er stets peinlich darauf bedacht war, eben nicht wie Trayvon Martin auszusehen. Obama galt und gilt vielen mächtigen schwarzen Aktivisten und religiösen Führern als „zu weiß“.

Kaum ein Volk hat so entschieden gegen dieses Unrecht gekämpft wie die Amerikaner: Gesetze gegen rassistische Diskriminierung und zur aktiven Bevorzugung von Schwarzen haben den Aufstieg von Millionen Schwarzen zu erfolgreichen Mitgliedern der Mittelschicht ermöglicht. Das Urteil vom Sonntag stellt die Nation nun vor die Prüfung, ob der „Bogen des moralischen Universums sich zur Gerechtigkeit hin beugt“, wie Martin Luther King jr. am 25. März 1965 bei seiner Rede in Montgomery das Ende der Rassentrennung prophezeit hatte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2013)

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