Der umstrittene Freispruch nach dem gewaltsamen Tod des schwarzen Trayvon Martin offenbart einen Konstruktionsfehler der Geschworenengerichtsbarkeit.
Der Freispruch für George Zimmerman versetzt die Vereinigten Staaten in Aufruhr. Zimmerman ist jener Mann, der am Abend des 26. Februar 2012 in Florida den 17-jährigen Trayvon Martin erschossen hat. Der Schütze war Mitglied einer privat organisierten Nachbarschaftswache und gab an, in Notwehr gehandelt zu haben; das Opfer war ein Schwarzer, und deshalb drängt sich der Verdacht auf, die überwiegend mit Weißen besetzte Jury habe ihren Freispruch aus rassistischen Gründen gefällt. Tausende Menschen gingen am Montag in vielen Städten der USA auf die Straße und protestierten gegen das Urteil aus Sanford.
Der Fall zeigt, wie stark das Rassismusthema nach wie vor unter der Oberfläche gärt, auch wenn die USA mit Barack Obama erstmals von einem schwarzen Präsidenten angeführt werden. Beobachter fühlen sich an den Fall Rodney King erinnert: Das war jener Schwarze, der Anfang der 1990er-Jahre von vier nicht schwarzen Polizisten vor einer zufällig mitlaufenden Kamera schwerst misshandelt wurde. Der Freispruch der Polizisten löste Unruhen in Los Angeles aus, bei denen 53 Menschen starben. Erst später wurden zwei der Beamten durch ein Bundesgericht verurteilt. Dass dies nach einem rechtskräftigen Freispruch überhaupt möglich ist, mag Europäer irritieren – gleichwohl sind auch nach Zimmermans Freispruch sogleich Rufe nach einem weiteren Verfahren laut geworden, und das Justizministerium bemüht sich bereits darum.
Irritierend ist auch der Umstand, dass Notwehr in Florida – und rund 30 weiteren Bundesstaaten – nach dem Grundsatz „Stand your ground“ in sehr weitem Ausmaß erlaubt ist. Die mitunter allzu schießfreudigen Amerikaner werden so geradezu dazu ermuntert, sich auch gewaltsam zu wehren. Allem Anschein nach auch in einer viel geringeren Bedrängnis, als sie ein Juwelier und ein Taxifahrer in den vergangenen Wochen in Wien verspürt hatten, ehe sie bei zwei Überfällen selbst zur Waffe griffen und die Angreifer erschossen.
Warum also haben die Geschworenen am Wochenende George Zimmerman freigesprochen? Es muss Gründe geben, doch die Außenwelt erfährt sie nicht. Denn die Urteile von Geschworenengerichten sind – in Österreich übrigens genau wie in den USA – dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht begründet werden. Die Jury spricht (frei), und damit basta. Anders als bei uns kann in Amerika ein Freispruch nicht von Berufsrichtern ausgesetzt werden, und mag er diesen noch so falsch erscheinen.
Die Öffentlichkeit muss also auch mit echten oder vermeintlichen Fehlurteilen leben, und das ist das Kernproblem, wenn sachlich und rechtlich schwer zu lösende Fragen allein den Laien zur Beantwortung überlassen werden: Über die Motive kann frei spekuliert werden. Noch ein – zeitlich freilich weit hergeholter – Vergleich mit Österreich sei gestattet: Der Brand des Justizpalasts 1927 hatte als Auslöser das – eher wegen Überforderung als wegen politischer Einäugigkeit der Laien falsche – Urteil des Geschworenengerichts im Schattendorf-Prozess. Ein kriegsversehrter Schutzbündler und ein Achtjähriger waren durch Frontkämpfer-Schüsse getötet worden, statt „Rassenjustiz“ hieß es in Wien „Klassenjustiz“ – die Unruhen nahmen ihren Lauf.
Nun schwelten zu jener Zeit in Österreich die Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern wohl noch heftiger als der Rassenkonflikt in den USA der 2010er-Jahre. So konnte bald einmal ein sprichwörtlicher Funke die Explosion auslösen. Es mag aber sein, dass eine verständliche Begründung, warum seinerzeit der Freispruch erfolgt ist, dessen Gefahrenpotenzial um einiges verringert hätte. Wie auch heute in den USA klare Aussagen darüber, welche Überlegungen die Geschworenen in Sanford leiteten, das für viele unbegreifliche Urteil leichter verständlich machen könnte.
Doch das ist das rechtsstaatlich schmerzhafte Dilemma der Geschworenengerichte: Man lässt Leute entscheiden, die beim besten Willen nicht dazu fähig sind, wie Berufsrichter eine Begründung mitzuliefern. Es ist Zeit, über eine Reform nachzudenken, die eine gemeinsame Entscheidung von Laien- und Berufsrichtern und damit eine Begründung möglich machen.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2013)