"Wir haben ein gutes Recht, zornig zu sein"

"Amerika muss sich überhaupt erst eingestehen, dass so etwas wie Rassismus überhaupt existiert", sagt Avis Jones-DeWeever.(c) Avis Jones-DeWeever
  • Drucken

Amerikas Rassismus ist heutzutage versteckt und darum schwer auszurotten, kritisiert die Gesellschaftsforscherin und frühere Chefin der wichtigsten Lobby schwarzer Frauen, Avis Jones-DeWeever, im "Presse"-Interview.

Die Presse: Wie rassistisch ist Amerika im Jahr 2013?

Avis Jones-DeWeever: Rassistischer, als es sich das eingestehen möchte. Amerika muss sich überhaupt erst eingestehen, dass so etwas wie Rassismus überhaupt existiert. Vergleichen Sie das mit Südafrika: Nach dem Ende der Apartheid setzen die dort Wahrheits- und Versöhnungskommission ein. Ich war zuerst dagegen. Denn ich fand es nicht gerecht, dass Menschen ihre Misstaten bloß zugeben mussten, um von jeglicher Verantwortung für diese Misstaten freigesprochen zu werden. Dann besuchte ich Südafrika, und ich verstand den Wert dieses Prozesses. Das Eingeständnis der Wahrheit ist nämlich mächtig: Es anerkennt den Menschen, dem Unrecht zugefügt worden ist. Es gibt ihm einen Raum, gehört zu werden. Und es anerkennt, dass es falsch war, dieses Unrecht zuzufügen. Wir haben so etwas in unserem Land nie gemacht. Und darum haben wir eine Kultur, die nicht nur ihre rassistische Vergangenheit negiert, sondern auch die gegenwärtige Bedeutung, die Rassismus spielt.


Welche ist das?

Er schafft Situationen, wo ein Mensch mit Fug und Recht allerlei Annahmen über den Charakter eines anderen Menschen machen kann, seine Absichten und die Gründe, aus denen er sich an diesem oder jenem Ort befindet – und einfach eine tödliche Handlung setzte, statt einfach ein Gespräch mit dieser Person anzufangen.


Sie sprechen George Zimmerman an, der als Hobby-Polizist den unbewaffneten, unbescholtenen Teenager Trayvon Martin bei einer Rauferei erschoss, weil er ihn für verdächtig hielt.

Das ist die Situation, in der wir uns heute befinden. Mich haben all die Aufrufe zur Ruhe und Besonnenheit sehr verletzt. Das ist, als spräche man über Wilde. Dabei haben Afroamerikaner ein gutes Recht, zornig zu sein, empört zu sein, ein gutes Recht zu fordern, dass ihre Kinder auf der Straße gehen können, ohne angehalten und ermordet zu werden. Das zu verlangen ist nicht unvernünftig in einem Land, das von sich behauptet, Leben, Freiheit und das Streben nach Glück für alle zu bieten. Es ist eine rassistische Annahme, dass Schwarze von Natur aus gewalttätig sind, weshalb wir ihnen sagen müssen: Macht keinen Aufstand. Die Demonstrationen sind berechtigt, und ich hoffe, dass sie weitergehen. Wenn man sich nicht für seine eigenen Kinder stark macht: Was für ein Mensch ist man dann? Wir werden nicht schweigen, wenn unsere Kinder angehalten und ermordet werden wie Tiere.


Der Soziologe Elijah Anderson von der Yale-Universität argumentiert, dass der Rassismus heute versteckter auftritt als vor 50 Jahren: Weil in den armen, gewalttätigen Ghettos des Großstädte fast nur Schwarze leben, zieht man den Schluss, dass alle Schwarzen aus dem Ghetto kommen und sich erst als vertrauenswürdig erweisen müssen. Hat er Recht?

Das ist absolut zutreffend. Die offene Form des Rassismus ist aus der Mode geraten. Aber dadurch, dass sich der Rassismus versteckt, wird es schwieriger, ihn auszurotten. Ich gebe Ihnen ein persönliches Beispiel: Ich habe einen Sohn, der genauso wie Trayvon 17 Jahre alt ist. Vor ein paar Wochen ging er zum Haus seines Vaters, von dem ich geschieden bin. Da hielt ihn ein Polizist auf, weil er „verdächtig“ aussah. Er trug damals ein T-Shirt und Shorts. Und das machte ihn verdächtig. In seinem eigenen Wohnviertel. Er hatte seinen Ausweis dabei mit der Adresse seines Vaters. Das reichte dem Polizisten aber nicht. Er begann, ihm allerlei unmögliche Fragen zu stellen: Wie lange lebst du schon hier? Er zog als Siebenjähriger ein. Wann wurde dieses Haus gebaut? Nicht einmal ich weiß die Antwort darauf. Um kein Geld in der Welt würde ich glauben, dass ein weißes Kind so eine Erfahrung hat.


Haben Sie eine Beschwerde dagegen eingebracht?

Ich bin zum Polizeirevier gegangen und hatte ein Treffen mit dem Vorgesetzten des Polizisten. Ich wollte von ihm die Definition für „verdächtig“ wissen. Natürlich hat er sofort abgestritten, dass es in seinem Revier Racial Profiling gibt. Aber es gibt dafür keine Entschuldigung.


Laut einer Umfrage des Pew Research Centers fühlen sich heute mehr Afroamerikaner diskriminiert als zu Beginn der ersten Amtszeit von Barack Obama. Wie ist das möglich?

Als dieser Präsident gewählt wurde, gab es eine heftige Gegenwehr eines Segments der weißen Gesellschaft, die das Gefühl hatte, dass ihnen die Macht weggenommen worden sei. Als die Tea Party sich formierte, lautet der lauteste Schlachtruf: „Wir müssen unser Land zurückholen!“ Was soll das bedeuten? Euer Land? Gehört das ausschließlich euch? Und von wem wollt ihr es euch zurückholen? Jedes Mal, wenn es einen Fortschritt in den Rassenbeziehungen in diesem Land gibt, sehen wir kurz darauf auch ein Rückschritt. Das war schon vor 150 Jahren nach Präsident Lincolns Emancipation Proclamation so (die das Ende der Sklaverei verkündete, Anm.). Darum bin ich über die Gegenwehr nach Obamas Wahl nicht überrascht. Es gab nie einen geraden Weg zur Gerechtigkeit zwischen den Rassen in diesem Land. Und den wird es auch nie geben.


Man könnte diesen Befund auch optimistisch interpretieren und sagen: Amerika wird ethnisch immer diverser, die Zahl der Rassisten sinkt, aber dafür sind sie umso lauter, weil sie mehr zu verlieren fürchten.

Absolut. Jene, die rassistische Gefühle hegen, fühlen sich besonders bedroht, wenn sie den in ihren Augen unverdienten Fortschritt beobachten, die nicht weiß sind. Die wissen, dass die Demografie gegen sie spricht. Und so gibt es dieses verzweifelte Verlangen, an den Privilegien festzuhalten, die damit einhergehen, wenn man weiß ist. Das sieht man bei all den Wahlgesetzen in diversen Bundesstaaten: Wenn man nicht mehr zahlreich genug ist, um Mehrheiten zu bekommen, muss man die Spielregeln ändern. Genau das passiert.


Der Supreme Court hatte also nicht recht, als er vor ein paar Wochen urteilte, dass Amerika einen Schritt nach vorne gemacht hat und darum die strenge Bundesaufsicht über die Wahlgesetze der früher besonders rassistischen Staaten nicht mehr nötig ist?

Das war eine falsche Entscheidung. Man muss sich nur die letzte Präsidentschaftswahl ansehen, all diese verrückten Wahlgesetze. In Texas zum Beispiel konnte man sich bei der Wahl nicht mit dem Studentenausweis registrieren – mit dem Waffenschein hingegen schon. Nun haben aber mehr Weiße als Schwarze Waffenscheine. Wenn man also Studentenausweise nicht anerkennt, benachteiligt das überproportional junge Leute und farbige Leute. Dieses Gesetz wurde vor der Wahl von einem Berufungsgericht für rassistisch diskriminierend und somit ungültig erklärt. Das Urteil des Supreme Court negiert diese Annulierung. Texas hat nun ein identisches Gesetz vorgebracht, ebenso wie Alabama und North Carolina.


Diskriminiert das amerikanische Justizsystem die Schwarzen?

Ja. Und das wird von Statistiken belegt. Wenn man zum Beispiel schwarz ist, des Mordes angeklagt wird und sich damit verteidigt, dass es Selbstverteidigung war, hat man eine dreiprozentige Chance, freigesprochen zu werden. Die Chance für Weiße liegt bei mehr als einem Drittel. Das Justizsystem in den USA ist nicht farbenblind. Zudem ist die Mehrheit der Richter am Supreme Court konservativ. Und das gilt auch für die Mehrheit der Bundesrichter. Deshalb blockieren die Republikaner im Kongress ja die Nominierung neuer Richter. Sie wollen verhindern, dass dieses rechte Übergewicht verloren geht. Wir sehen derzeit ein verzweifeltes Ringen darum, die bestehenden weißen Machtstrukturen in diesem Land zu bewahren.


Wie lassen sich diese Missstände beseitigen?

Schwer. Ein Anfang wäre, wenn sich mehr Schwarze in die Wählerlisten eintragen würden. Denn damit würden sie auch als Geschworene in Frage kommen. Wir brauchen mehr Schwarze in der Polizei, in der Richterschaft, in der Lokalpolitik. Bis dahin bin ich allerdings ganz ehrlich für folgendes: Schwarze Eltern müssen ihren Kindern professionelle Selbstverteidigung beibringen. Ernsthaft. Unsere Kinder müssen wissen, wie sie einen Angreifer entwaffnen können. Wir wissen nämlich nicht, welche Spinner da draußen herumlaufen, die sich von der Entscheidung im Fall von George Zimmerman bestärkt fühlen. Ich würde meinen Sohn lieber im Gefängnis sehen, als Blumen auf sein Grab zu legen. Ich will unsere Kinder leben sehen.


Fänden Sie es sinnvoll, wenn der US-Justizminister eine Zivilrechtsklage gegen Zimmerman wegen rassistischer Mordmotive anstrengen würde?

Ganz ehrlich: Das wird noch schwerer zu beweisen sein. Wenn das passiert, ist es fein. Große Hoffnung auf Erfolg habe ich aber nicht. Ich hoffe aber auf jeden Fall, dass die Familie von Trayvon Martin einen Schmerzensgeldprozess gegen Zimmerman beginnt. Er darf nämlich sicher einen Vertrag über ein Buch, eventuell einen Film erwarten. Er hat also Geld. Er sollte nicht vom kaltblütigen Mord an diesem Kind profitieren dürfen.

Auf einen Blick

Avis Jones-DeWeever ist Sozialforscherin und war Geschäftsführerin des "National Council of Negro Women", der führenden Lobby für schwarze Frauen. Sie hat Magna Cum Laude an der Virginia State University abgeschlossen und hält einen Doktortitel in Politikwissenschaften von der University of Maryland. Sie sprach in Washington mit der "Presse" und der polnischen Nachrichtenagentur PAP.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Trayvon Martin could have
Mitreden

"Trayvon Martin could have been me"

Unangekündigt nahm US-Präsident Barack Obama am Freitag im Pressefoyer des Weißen Hauses Stellung zum Fall Trayvon Martin. Es war eine sehr persönliche Rede über Rassismus und Afro-Amerikaner in den USA, die wir im Original, leicht gekürzt, abdrucken.
Geschworene distanzieren sich Kollegin
Weltjournal

USA: Geschworene distanzieren sich von Kollegin B-37

Am Dienstag äußerte sich eine Geschworene anonym zu dem Fall Martin. Vier weitere Geschworene der sechsköpfigen Jury gehen nun auf Distanz.
US-Justizminister prangert Notwehrrecht in Florida an
Weltjournal

US-Justizminister stellt Floridas Notwehrrecht infrage

Minister Holder äußert "Besorgnis" über den Fall Trayvon Martin. Zu einer neuen Anklage gegen den Todesschützen Zimmerman legt er sich aber nicht fest.
A sign lays on the ground at a protest of the acquittal of George Zimmerman for the 2012 shooting death of Trayvon Martin, in Los Angeles
Außenpolitik

Martin-Urteil: Aktivisten planen Massenproteste

Afroamerikanische Bürgerrechtsaktivisten rufen zu landesweiten Protesten für einen neuen Prozess gegen den Todesschützen auf.
Geschworene rechtfertigt Urteil: "Haben alles gegeben"
Weltjournal

Fall Martin: Schuss für Geschworene "verständlich"

Die "Geschworene B-37" nimmt als erstes Jury-Mitglied zum Freispruch des Todesschützen Zimmerman Stellung. Sie zeigt Sympathie für den Angeklagten, eine schwarze Zeugin nennt sie "bemitleidenswert".

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.