Gespaltene Staaten von Lateinamerika

Gespaltene Staaten Lateinamerika
Gespaltene Staaten Lateinamerika(c) REUTERS (SERGIO MORAES)
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Der Papst besucht Brasilien, einst Wirtschaftsmotor des größten lateinamerikanischen Staatenbundes. Doch dieser Motor stottert. Eine neue Allianz macht dem Bündnis rund um Brasilien und Argentinien Konkurrenz.

Als die katholische Kirche 2011 verkündete, ihr Jugendtreffen in Rio de Janeiro abzuhalten, war die Welt noch eine andere. Der Papst war der intellektuell-sperrige Benedikt XVI., und Brasilien hatte den Aufstieg zur sechstgrößten Volkswirtschaft der Erde vollbracht. Ein Land voller Schwung, Optimismus und Freude auf den Papst, die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016.

Nun besucht ein volksnaher Papst ein Land in einer tiefen Sinnkrise. Auch wenn die Massendemonstrationen in letzter Zeit nachgelassen haben, zeigen Umfragen, dass die Unzufriedenheit nicht gewichen ist. Auf einer Demo in Rios Luxusviertel Leblon verkündeten Demonstranten per Transparent: „Auf den Papst können wir verzichten, aber auf Kliniken nicht!“

Die Brasilianer demonstrieren gegen einen Staat, der wuchs, ohne zu wachsen: gegen Prestigeprojekte wie Papstbesuch, Fußball-WM und Olympia, während die Spitäler in einem furchtbaren Zustand sind. Sie marschieren gegen das defizitäre Bildungssystem und die Kriminalität. Und sie beklagen die Korruption der Staatsverwaltung, die noch schneller zunahm als das Bruttoinlandsprodukt.

Aufstand der Mittelklasse

Es ist eine Rebellion der Mittelklasse, genauer der Mittelklassen. Da marschiert ein Teil jener 30Millionen Brasilianer, die unter dem Präsidenten Lula der Armut entrinnen konnten. Diese Leute haben kräftig konsumiert und den Binnenmarkt belebt. Doch nun sind viele am Ende ihres Überziehungsrahmens angekommen und kämpfen vor allem mit den Lebensmittelpreisen, die noch schneller klettern als die Inflation, die derzeit bei etwa 6,5Prozent liegt.

Und da sind die traditionellen Mittelklassen, die den Anstieg der Preise während des Brasilien-Booms nicht mehr verkraften. Eine Pizza nahe dem Strand von Copacabana kostet heute durchaus 20 Euro, die Tarife für private Krankenkassen und Schulen (angesichts der Misere der öffentlichen Systeme kein Luxus) sind ebenso explodiert wie die Immobilienpreise und Mieten. Rio und São Paulo liegen in den Rankings der teuersten Städte der Welt inzwischen auf Rang zwölf und 13. Immer mehr Menschen aus der Mittelklasse erkannten, dass der Brasilien-Boom ihren Lebensstandard eher gesenkt als gehoben hat.

Lateinamerika
Lateinamerika(C) DiePresse

Bauernproteste in Kolumbien

Brasilien, dessen Real seit Jahren zu den überbewertetsten Währungen gehört, ist ein Extrembeispiel, aber auch andere Gesellschaften in Lateinamerika erleben, dass gestiegene Bruttoinlandsprodukte nicht zwangsläufig glücklichere Bürger produzieren. Noch außerhalb der Objektive der Weltpresse erlebt Kolumbien – eines der gefeierten Boomländer mit Wachstumsraten von stabilen fünf Prozent – derzeit massive Proteste von Kaffeebauern, Kakaoproduzenten, Reisbauern, Tabakpflanzern und Lastwagenfahrern.

Alle kämpfen sie um ihre Existenz angesichts der Aufwertung des Peso und der Freihandelsverträge. Der Export von Kohle, Mineralien und Edelmetallen brachte Dollars in das Land. Zusätzlich strömten Investorengelder aus Nordamerika herein, das Dauerfeuer aus der US-Notenpresse seit 2008 produzierte Milliarden, die in Lateinamerikas Schwellenländern höher verzinst wurden als nördlich des Rio Grande.

Im Juni verkündete Fed-Chef Ben Bernanke, dass die US-Notenbank ab kommendem Jahr die Finanzinjektion absetzen würde. Das und die mit dem Fracking-Boom verbundene Hoffnung auf eine wieder prosperierende US-Wirtschaft haben viele Investoren zur Heimholung ihrer Habe veranlasst. Zudem wächst auch China langsamer. Für Lateinamerika bedeutet das: Der Rückenwind wird abflauen.

Unterschiedliche Allianzen

Die Latino-Führer reagieren mit zwei grundverschiedenen Allianzen: Im Mai trafen sich die Präsidenten Mexikos, Perus, Chiles und Kolumbiens, um die „pazifische Allianz“ weiter zu stärken. Dieser Zusammenschluss will ein Wirtschaftsblock werden, der sich völlig dem freien Handel untereinander und mit der restlichen Welt verschreibt. Die Basis dieses Modells wird bis auf Weiteres der Export von Rohstoffen sein.

Das Gegenmodell dazu heißt Mercosur, die südamerikanische EU-Kopie, die es in den 22 Jahren ihres Bestehens nicht geschafft hat, Waren ohne Hemmnisse auszutauschen. Während vor allem Argentinien mit Protektionismus seine Partner verärgert, hat Bolivien angekündigt, wie Venezuela Mitglied werden zu wollen, auch Ecuadors Präsident Correa hat Interesse angemeldet. Die vorwiegend linken Führer des Mercosur wollen Industriegüter lieber selbst produzieren und setzen auf Handelsschranken gegenüber der restlichen Welt. Seit der Inkorporation Venezuelas 2012 steht die Entwicklung zu einem politischen Block im Vordergrund, auch wenn die Volkswirtschaften der beiden Großen, Argentinien und Brasilien, nur noch stottern.

Um die erhitzte Volksseele abzukühlen, hat Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff konkrete Schritte beschlossen: Angehende Ärzte müssen künftig zwei Jahre Pflichtdienst im öffentlichen Gesundheitssystem absolvieren, ehe sie ihre Zulassung bekommen. Und einstweilen sollen 10.000 ausländische Mediziner in staatlichen Spitälern aushelfen. 6000 dieser Doktores kommen aus Kuba, verliehen vom Altrevolutionär Raúl Castro. So haben sich die wenigsten Brasiliens Aufstieg vorgestellt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2013)

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