Mit 190 in gefährliche Kurve: 80 Tote bei Zugkatastrophe

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Mit 190 in gefährliche Kurve: 80 Tote bei ZugkatastropheREUTERS
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Nahe der Pilgerstadt Santiago de Compostela entgleiste ein Zug, nachdem der Lokführer offenbar mit 190 Km/h in die Kurve fuhr. Laut Gewerkschaft wäre der Unfall mit moderner Ausstattung vermeidbar gewesen.

Santiago de Compostela/Madrid. Anwohner hörten ein Krachen, die Erde schien zu beben. Dann plötzlich unheilvolle Stille und Rauchsäulen. Am Unglücksort fanden die ersten Helfer ein Horrorszenario vor: Umgestürzte und zertrümmerte Bahnwaggons, einige hatten sich ineinander verkeilt. Die Wucht war so groß, dass ein Waggon samt Passagieren über eine zehn Meter hohe Schutzmauer geschleudert und teilweise zerfetzt wurde. Der letzte Waggon, an dem ein Triebkopf samt Dieseltank hing, brannte.

Der Schnellzug, der von der Hauptstadt Madrid in die nordspanische Fischerstadt Ferrol fahren sollte, entgleiste am Mittwochabend um 20.42 Uhr, und zwar wenige Kilometer vor dem Bahnhof der berühmten Pilgerstadt Santiago de Compostela, in der Stunden später das Stadtfest für den Schutzheiligen Santiago eröffnet werden sollte. Bis Mittwochabend stand fest: Mindestens 80 Menschen wurden getötet, weitere 140 verletzt. Das Unglück ereignete sich in einer engen Linkskurve, in der die Geschwindigkeit auf 80 Stundenkilometer begrenzt war.

„Ich bin mit 190 gefahren", soll der leicht verletzte Lokführer kurz nach der Katastrophe bei einer ersten Befragung zugegeben haben. Warum, sagte er offenbar nicht. Das Video einer Überwachungskamera, in dem man sieht, wie der Zug mit großer Gewalt gegen eine Begrenzungsmauer kracht, scheint die Aussage des Lokführers zu bestätigen.

Video der Überwachungskamera:

(Quelle:YouTube)

Verstümmelte Leichen

Weshalb reduzierte er er nicht wie vorgeschrieben das Tempo in dieser Kurve, die als „schwierig" galt? Warum raste er blindlings in die Katastrophe? Wollte der Lokführer die fünfminütige Verspätung aufholen? Auch auf die Frage, warum es auf der Strecke kein automatisches Bremssystem gibt, das heute vielerorts zum Sicherheitsstandard gehört, gab es zunächst keine Antwort.

Die Lokführergewerkschaft Semaf beklagte jedenfalls, dass dieses Unglück mit einer besseren Sicherheitsausstattung auf der Strecke vermeidbar gewesen wäre. Ausgerechnet vor der Unglückskurve sei kein modernes Zugleitsystem installiert gewesen.

Im Schnellzug mit 13 Waggons saßen etwa 220 Menschen. Auch ausländische Touristen reisten mit, meist Pilger, die nach Santiago wollten. Unterdessen warnten die Behörden, dass die Zahl der Opfer weiter steigen könnte. Auch die Identifizierung mancher Leichen sei schwierig. Feuerwehrleute und Ärzte berichteten von grausigen Szenen: Manchen Körpern seien der Kopf oder die Gliedmaßen abgetrennt worden, andere Opfer seien aus den Fenstern geschleudert und dann „von umstürzenden Wagen begraben" worden. Handys klingelten in den Taschen einiger Todesopfer, die am Bahndamm aufgereiht unter Tüchern und Decken lagen.

Spaniens Regierung verhängte nach dem Unglück eine dreitägige, die Region Galicien eine siebentägige Staatstrauer. Das mehrtägige Volksfest in Santiago de Compostela, mit dem gerade der Namenstag des heiligen Santiago gefeiert werden sollte, wurde abgesagt.
Die Szenen am Unglücksort erinnerten viele Spanier an die Bilder vom Terroranschlag auf vier Vorortzüge in Madrid am 11. März 2004. Damals waren bei einem Bombenattentat durch Jihadisten 191 Menschen ums Leben gekommen. Doch dieses Mal erklärt schon Stunden nach dem Drama ein spanischer Regierungssprecher: „Es gibt keine Hinweise auf einen Terroranschlag."

Schlimmstes Unglück seit 1944

Das Zugunglück von Santiago de Compostela ist das zweitschlimmste in der Geschichte Spaniens. Auf der gleichen Strecke, von Madrid nach Galicien, ist 1944 ein Passagierzug gegen eine Rangierlok geprallt; damals sollen rund 500 Menschen gestorben sein. Zu dieser Zeit herrschte Diktator Francisco Franco, der die genaue Opferzahl geheim hielt.

Das Unglück in Santiago ist zugleich das zweitschwerste in der europäischen Nachkriegsgeschichte. Die schlimmste Zugkatastrophe hat sich 1998 im deutschen Eschede ereignet, als ein ICE auf dem Weg von Hannover nach Hamburg entgleist ist und 101 Menschen gestorben sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26. Juli 2013)

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