„Mittwoch“: eine lange Prosadichtung, die beweist, dass auch dem scheinbar Banalsten noch eine erstaunliche Strahlkraft innewohnen kann, wenn nur einer da ist, der sich für das Leben und die Menschen interessiert und die Sprache liebt. Und genau so einer ist Wolf Wondratschek.
Es ist ein Mittwoch. Ein Mann, ruhig, kultiviert, von bedächtiger Eleganz, hinterlegt als Sicherheit, dass ein für ihn reserviertes Zimmer bis zu seiner Entscheidung, es tatsächlich zu beziehen, frei bleibt, einen Einhundert-Euro-Schein am Empfang eines kleinen Familienhotels.“
Geld bewegt die Welt, auch in Wolf Wondratscheks neuem Buch, in dem auf den ersten Blick freilich nichts Weltbewegendes geschieht. Ein Mann trägt einen Schein zum Automechaniker, dem er noch Geld schuldet. Dieser setzt ihn im Wirtshaus beim Wetten auf ein Pferd und muss ihn an den schlitzohrigen Wirtssohn weitergeben, der das Geld prompt ins Bordell trägt. Die Prostituierte bringt es ihrer Freundin, der Friseurin, die es an ihren Chef weiterreicht, der sich an seine Schulden im Tabakladen erinnert, in dem eine hoffnungslos dem Nikotin verfallene Herrenrunde über Siege und Niederlagen in ihrem Leben palavert.
Ganz am Ende, auf der letzten Seite von „Mittwoch“, betritt der Mann abends noch einmal das Hotel, nun mit einem kleinen Mädchen an der einen Hand und einem Regenschirm in der anderen. Er hat sich allerdings für eine andere Unterkunft entschieden, „worauf ihm der Portier den von ihm am Morgen hinterlegten Einhundert-Euro-Schein anstandslos wieder aushändigt“.
Noch einmal: Der Eindruck könnte entstehen, dass im Grunde nichts passiert ist. Er wäre jedoch grundfalsch. Mit „Mittwoch“ hat Wolf Wondratschek, der in wenigen Tagen, am 14. August, seinen 70. Geburtstag feiern wird, ein – als Roman vom Jung und Jung Verlag unzutreffend, aber hoffentlich immerhin verkaufsfördernd apostrophiertes – Buch geschrieben, das das Poetische im Alltäglichen sucht; eine lange Prosadichtung, die beweist, dass auch dem scheinbar Banalsten noch eine erstaunliche Strahlkraft innewohnen kann, wenn nur einer da ist, der hinschaut, sich für das Leben und die Menschen interessiert und die Sprache liebt. Und genau so einer ist Wolf Wondratschek.
Was hat man ihn, der 1969 mit dem Buch „Früher begann der Tag mit einer Schusswunde“ debütierte, im Lauf der Jahre nicht alles genannt: „Literatur-Macho“, „Rock-Poet“, „68er-Rebell“ oder „Hurendichter“. Inzwischen gilt er so manchem als „Deutschlands dienstältester Poet“. Alles Blödsinn, würde er selbst sagen. Im Grunde blieb der seit Mitte der Neunzigerjahre überwiegend und auffällig unauffällig in Wien lebende Autor über all die Jahre ein Einzelgänger, der sprichwörtliche einsame Wolf, der vom Rand aus zusieht.
„Der Wunsch war, aus dem täglichen Leben das Größtmaß an Intensität zu filtern, nicht, mir einen Berufsnamen zu verdienen und dann mein Leben lang ein Schriftsteller zu sein“, sagte er vor zwei Jahren anlässlich seines letzten Romans, „Das Geschenk“ (damals noch bei Hanser erschienen). Gerade sein jüngstes Buch zeigt, wie sehr sich Wondratschek trotz all der Schlenker, Hochs und Tiefs in seiner Laufbahn treu geblieben ist. Denn genau darum geht es ihm hier wieder einmal: „aus dem täglichen Leben das Größtmaß an Intensität zu filtern“.
Freilich sind die Lesegewohnheiten inzwischen dergestalt, dass man sich erst einrichten muss in diesem Mittwoch. Statt einer linearen Handlung setzt einem Wondratschek eine einzige Abschweifung vor, die noch dazu ohne Unterteilung in Kapitel auskommt. „Mittwoch“ mutet an wie eine Materialsammlung, wäre da nicht die sprachliche Ausarbeitung, die es unmissverständlich als fertigen Text ausweist.
Am besten funktioniert die Lektüre, wenn man sich durch die Seiten dieses Tages treiben lässt und sich am Erfindungsreichtum und an den teils großartigen Bildern erfreut, anstatt sich zu fragen, welche Figur nun eigentlich gerade spricht oder von wem die Rede ist, was sich angesichts der häufigen Überblendungen mitunter nur schwer sagen lässt. En passant liefert Wondratschek auch eine kleine Poetologie mit, wenn er eine Frau von ihren literarischen Versuchen in einem früheren Leben erzählen lässt. „Wenn man die Sachen las, die sie geschrieben hatte“, sagt diese, „musste man eher vermuten, dass sie, wenn sie zum Bleistift griff, nicht groß nachdachte; es waren vielleicht einfach auch nur Einfälle, erste Notizen zu irgendetwas, einer Geschichte, einem Roman. Ob sie überhaupt je daran dachte, etwas dergleichen in Angriff zu nehmen? Am besten gefielen mir ihre kurzen Sätze, Sätze von himmelschreiender, aber schöner Unverständlichkeit. Wenn man das Vollkommene versucht, fällt oft ein Kissen auf die Straße, so was in der Art.“
Was einem die Lektüre streckenweise verleiden kann, ist nicht so sehr die Tatsache, dass ein Buch natürlich nicht nur aus derart genialen Sätze bestehen kann. Störend wirken vielmehr jene Passagen, in denen dieser sonst so feinfühlige Autor zwischendurch dann doch den Macho von der Leine lässt. Über eine Frau schreibt er: „Sie will von einem Mann entzündet, in Brand gesteckt, in Feuer getaucht werden.“ Dem mag man vielleicht noch eine gewisse Poesie attestieren. Aber Wondratschek belässt es nicht dabei. Er muss noch hinzufügen: „Sie will vögeln. Nach Strich und Faden.“ Damit wäre auch das geklärt.
Auch weint der Autor bei aller Beweglichkeit und Leichtfüßigkeit, die er sich erhalten hat, bisweilen doch der guten alten Zeit nach. Damals, ja, damals wurde in den Redaktionen noch ordentlich geraucht:„Er hat die Zeit noch erlebt (und was waren das noch für Zeiten!), als der Journalismus noch mit dem Tabak verheiratet war. Selbst die Sekretärinnen waren Kettenraucher. Ich rauche, also bin ich – mehr Philosophie war unverträglich. Und die Resultate konnten sich sehen lassen.“ Und heute? „Das liegt alles unter der Erde, die ganze Zukunft des Journalismus. Da steigt kein Rauch mehr auf. Die Indianer sind ausgerottet.“
Der große amerikanische Popsonderling Harry Nilsson sang einst in seinem Song „Thursday“ den schönen Satz: „Wednesday's just the middle of the week.“ Wolf Wondratschek holt den glanzlosen Mittwoch, stellvertretend für alle mehr oder weniger ereignislos verlaufenden Tage, die man umgehend wieder vergisst, aus dem Schatten ins Licht. Seht noch einmal hin, scheint er uns zu sagen, so kann man es auch sehen. Dafür braucht es einen Dichter.
„Gab es einen Ort auf der Welt, der keine Kampfzone war?“ Vielleicht muss man sich den Dichter Wondratschek ja als einen vorstellen, der mit sich selbst in den Ring steigt. Dann und wann holt er sich dabei ein blaues Auge. Dem stehen Treffer gegenüber, die man sich auf der Zunge zergehen lassen möchte. „Liebe ist auf den Unsinn angewiesen, den Liebende von Zeit zu Zeit von sich geben.“ Oder: „Das ist das Dumme am Sterben, es bleiben zu viele ungelesene Bücher zurück.“ ■
Wolf Wondratschek
Mittwoch
Roman. 248S., geb., €22 (Jung und Jung Verlag, Salzburg)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.07.2013)