Weg ohne Umkehr?

Wenn die Frage wichtiger ist als die Antwort: Norbert GstreinsRoman „Eine Ahnung vom Anfang“ über innere Unsicherheiten, die zuäußeren Bedrohungen werden.

Es passiert ja nicht viel in so einer kleinen Stadt. Jeder kennt jeden, jeder schaut dem anderen auf die Finger und über den Gartenzaun. Umso größer die Aufregung, als eines Tages eine Bombendrohung eingeht. Im Bahnhof wird eine Tasche gefunden, darin ein Wirrwarr an Kabeln und ein Zettel. „Kehret um! Erste und letzte Warnung! Beim nächsten Mal wird es ernst!“

Da kann man nun darüber lachen oder sich exaltieren. Anton, ein Lehrer mittleren Alters, gehört zu Ersteren und nimmt die Bombendrohung nicht weiter ernst. Bis er auf dem Fahndungsfoto Daniel zu erkennen meint, einen früheren Schüler, den er über lange Zeit als Freund, vielleicht auch Berater begleitet hat. Steckt er somit etwa selbst in der Sache mit drin?

„Eine Ahnung vom Anfang“ nennt Norbert Gstrein seinen neuen Roman, der zum Thema Jugend zurückkehrt, dorthin, wo er 1988 mit seiner Erzählung „Einer“ gestartet ist. Wie wird man zum Außenseiter? Wo sind die Punkte, an denen sich ein Leben verzweigt, wer stellt die Weichen?

Anton, Ich-Erzähler und Hauptfigur, nimmt sich bei Fragen wie diesen selbst in die Pflicht. Er hat Daniel unterrichtet, hat ihm Bücher geliehen und ihn dabei beobachtet, wie er sich durch Literatur und Philosophie hantelte. Bis zu jenem Sommer vor zehn Jahren, da sich das Verhältnis verändert. Anton verbringt die Ferien in seinem Haus am Fluss. Eigentlich nicht viel mehr als die Ruine einer alten Mühle unweit jenes Platzes, an dem sich sein Bruder umgebracht hat und auch sein Onkel ins Wasser gegangen ist. Lesen, sitzen, schauen, mehr macht er nicht. Doch eines Tages taucht Daniel bei ihm auf, zusammen mit einem Freund. Die beiden treiben durch die Tage. Anfangs ist es Anton lästig, dass sie immer wieder bei ihm aufkreuzen und herumhängen, doch dann genießt er ihre Gesellschaft. Zusammen beginnen die drei, das verfallene Haus zu renovieren, sie liegen in der Sonne, schwimmen, trinken abends miteinander. Mehr ist da nicht. Und doch ist es einer der schönsten Sommer, an die er sich erinnert.

Dass man die drei beobachtet, weiß Anton, als Lehrer steht er im Blickfeld. Man beginnt zu tuscheln, Spaziergänger kommen wie zufällig vorbei und lugen durch die Bäume. Lästige Gäste. Doch Anton und die beiden Burschen denken nicht weiter darüber nach. Besonders zwischen Daniel und seinem früheren Lehrer hat sich eine Freundschaft entwickelt. Über Jahre hinweg taucht Daniel immer wieder bei Anton auf, bleibt ein paar Tage, leiht sich Geld, ist wieder weg. Er berichtet, dass er sein Studium geschmissen hat und in Israel war, dass er sich für die Heilslehren eines amerikanischen Endzeitpredigers interessiert und sich ein Dasein als Einsiedler à la Henry David Thoreau vorstellen kann. So er sich nicht überhaupt auf Jesu Spuren begibt. Doch was wirklich in Daniel in dieser Zeit vorgeht, weiß Anton nicht, denn dieser öffnet sich ihm nie wieder so vertrauensvoll wie früher.

Wie kann es geschehen, dass sich ein Mensch aus der Gesellschaft verabschiedet, seltsamen Heilslehren anheimfällt oder in einem Gedankengebäude verloren geht, dessen Kellerräume gefährlich dunkel sind? Wie passiert es, dass ein intelligenter junger Mann immer weiter abdriftet? Und was ließesich dagegen tun? Auch das sind die Fragen dieses Romans. Doch je weiter das Buch vorankommt, umso mehr wird klar, dass da noch mehr drinsteckt. Auch die Hauptfigur ist eine widersprüchliche, spröde Gestalt, ein Eigenbrötler: Nach dem Selbstmord seines Bruders hat sich Anton nach Istanbul abgesetzt und dort unterrichtet. Nachdem er zurückgekommen ist, sucht er sich seine eigenen Wege. Keine wirklichen Freunde, keine Beziehung. Vielleicht berührt es ihn deshalb so stark, dass sich Daniel ihm anschließt und ihm, wie er nach und nach spürt, den Spiegel vorhält. Er bemerkt, wie er mit sich ins Gericht geht. Bis er schließlich selbst ein Stück weit aus der Welt fällt.

Norbert Gstrein spielt mit dem Geheimnis. Damals und Heute schieben sich mühelos ineinander, die verschiedenen Ebenen sorgen auf subtile Weise für Spannung. Der Roman setzt sich langsam in Gang, in fast schon altmodisch anmutender Sprache. Man beobachtet den Ich-Erzähler, wie er sich in mehreren Schritten an seine Erinnerungen herantastet und dabei immer stärker in die Ereignisse um die schließlich zweifachen Bombendrohungen hineingezogen wird. Der Erzählduktus, anfangs ein ruhiger Fluss, wird immer rastloser, auch aufgewühlter. Gstrein hat die innere Verunsicherung seiner Hauptfigur stimmig in Szene gesetzt. Anderes wirkt konstruiert: die seltsamen Verbindungen zwischen den Figuren, auch den toten, die wie zufällig eingestreuten Vermutungen und Verdächtigungen, die falsche Fährten legen und den Verlauf des Romans unnötig verrätseln.

„Eine Ahnung vom Anfang“ – schon der Titel des Bandes spiegelt die poetische Methode des Autors wider: sich langsam an die Ereignisse heranzutasten, nichts festzuschreiben, Fragen offen zu lassen. Ein Buch über die Vielzahl von Kleinigkeiten, die ein Leben wenden können. Er trage keine Schuld an Daniels gefährlich anmutenden Veränderungen, hört Anton von seinen Bekannten: Man klopft ihm auf die Schulter und sucht ihn zu beruhigen. Und wenn nun alles ganz anders war? Wenn die Lektüreempfehlungen, die Anton dem Halbwüchsigen zukommen ließ, doch die falschen waren, die Gespräche allzu abgehoben? Vielleicht hätte er Daniel auf den Boden der Wirklichkeit zurückholen und wachsamer sein müssen.

Liest man sich aus der Welt hinaus, oder ist das Lesen eine Möglichkeit, „sich in der Welt zu halten“? Norbert Gstreins Roman ist auch ein Nachdenken über die Möglichkeiten der Literatur und die Sprengsätze, die in ihr stecken, für einen, der seine Lebensweisheiten und Gewissheiten aus den Büchern zieht. Doch auch hier bleibt vieles ambivalent. Natürlich lässt der Roman an diverse Bombenbauer denken, an radikale Fundamentalisten, an Esoteriker und allerlei Erlösungsszenarien. Doch vieles bleibt in der Schwebe, die Frage ist Gstrein wichtiger als die Antwort.

„Am elegantesten war uns immer erschienen“, so Anton, „von einer Position möglichst durch ein Labyrinth von Gedanken zu ihrem Gegenteil zu gelangen, ohne auch nur einmal den Boden der Wirklichkeit zu berühren, als wäre das der selbstverständlichste Weg von einer Wahrheit zur anderen.“ Wo auch immer diese liegen mag: Fließend sind die Wege dorthin allemal. Und in Gstreins Roman erst recht. ■


Norbert Gstrein liest beim Literaturfest im Wiener Museumsquartier, „o-töne“, am
8. August, 20.30 Uhr, aus seinem neuen Roman (Einleitung: Klaus Nüchtern).
Am 15. August, 18 Uhr, diskutiert der Autor beim Europäischen Forum Alpbach mit Sigrid Löffler und Caspar Einem über die politische Radikalisierung junger Männer, die in den Fundamentalismus und schließlich sogar in den Terrorismus driften: „Die Revolte gegen den Westen und seine Werte“.

Norbert Gstrein

Eine Ahnung vom Anfang

Roman. 352S., geb., € 16,99 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.07.2013)


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