Leviathan sind wir: Die Monster der Tiefe

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Die Seeungeheuer beschäftigen unsere Fantasie seit den alten Ägyptern - in Mythen und Seemannsgarn steckt auch Wahrheit. Über tödliche Riesenkalmare, den Wal als Dämon und das Neueste: Haiangriffe aus der Luft.

An Land mag Schwarz die Farbe des Todes und des Bösen sein, im Meer ist es Weiß. Weiß ist Steven Spielbergs Mörderhai, weiß ist die Gestalt, die in E.A. Poes einzigem Roman den Helden ins ewige Nichts ziehen will. Weiß sind auch die Ungeheuer in „Moby Dick“, der Wal, aber auch der Riesenkalmar. Melville beschreibt dieses oft irrtümlich Krake genannte Tier noch schrecklicher als Jules Verne in „20.000 Meilen unter dem Meer“. 200 Meter lang ist er in „Moby Dick“, mit Armen, die sich „wanden wie ein Knäuel Anakondas“ – ein „gespenstisch formloses, wesenloses Stück Leben, unergründbar wie der Zufall“.

Der Riesenkalmar ist kein Mythos, Seeleute verzeichneten ihn früh auf Seekarten, Fischer fanden seine Überreste in den Mägen von Pottwalen oder am Strand. Aber auch, wenn man ihn heute ab und zu beobachten kann, weiß man immer noch kaum mehr über ihn, als dass er existiert.

Kampf der Titanen. Ähnlich rätselhaft bleibt die Seeschlange. Drei Meter lange Seeschlangen gibt es. Sind die Dutzende Meter langen schlangenähnlichen Meerungeheuer, wie sie über die Jahrhunderte überliefert wurden, Seemannsgarn? Nicht nur in ägyptischen Mythen tauchen sie auf, auch in der „Äneis“ des Vergil, wo sie Laokoon und seine Söhne verschlingen. Der schwedische Bischof Olaus Magnus berichtet im 16. Jh. von einer sieben Meter langen Schlange, die an der norwegischen Küste Schiffe angreife. Derlei Erzählungen ziehen sich durch die gesamte Geschichte. Haben die Leute den Riemenfisch gesehen, einen bis zu zehn Meter langen Tiefseefisch? Er ähnelt am ehesten den Beschreibungen.

Im 19. Jahrhundert beobachtete eine Schiffsbesatzung jedoch auch einen Pottwal im Kampf mit einer zweimal um seinen Körper gewickelten „Seeschlange“, am Ende sank der Wal sterbend in die Tiefe. Womöglich sahen die Seefahrer die Tentakel eines Riesenkalmars. Kraken unterliegen allerdings für gewöhnlich bei solchen Kämpfen. 1852 wiederum meldete ein Walfänger die Bergung einer 31 Meter langen Seeschlange. Der Fund wurde zwar in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht, aber nie verifiziert, das Schiff sank.

Dafür konnte Jules Verne auf die Wissenschaft zurückgreifen, als er in der „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ vom Kampf eines Plesiosaurus gegen einen Ichthyosaurus berichtete. Diese ausgestorbenen Meeresreptilien bekämpften einander wirklich, und beide konnten über 20 Meter lang werden.

Meermonster verkörpern die Angst der Seefahrer vor dem Meer, das einen „packen“, in den Abgrund „reißen“ kann. Als die Welt noch als Scheibe gedacht wurde, war dieser Abgrund nicht nur die Tiefsee. Es war auch der Abgrund an den Rändern der Erde. Da lauerte Schreckliches, eine „Mischung aus Sein und Nichts“, schreiben Antje und Henning Boetius in ihrem Buch „Das dunkle Paradies“ (s. auch Interview S. 48). „Erde und Himmel berührten sich. Der Hades wurde hinter dem äußeren Ozean vermutet. Das Chaos stellte man sich als Abgrund vor. Die nordischen Völker nannten diesen Abgrund Ginnungagap, einen Schlund oder Malstrom, dem sich zu nähern das sichere Ende bedeutete.“

Allerdings gebiert auch das vergleichsweise harmlose Mittelmeer Ungeheuer, allen voran Skylla und Charybdis, die bei Homer Odysseus' Gefährten in die Tiefe reißen. Charybdis ist gestaltlos, Skylla dagegen hat den Oberkörper einer jungen Frau und einen Unterleib aus sechs Hunden.

Der Inbegriff des Seeungeheuers wurde aber der jüdische „Leviathan“, ein Mix aus Krokodil, Drache, Schlange und Wal. „Aus seinem Munde fahren Fackeln, und feurige Funken schießen heraus [...] Sein Herz ist hart wie ein Stein“, sagt die Bibel. Im Christentum wird er ein Zeichen für göttliche Strafen oder Satan. Noch Kapitän Ahab sieht Moby Dick als Leviathan der Apokalypse, als Inkarnation des Teufels.

Dabei sitzt das Böse in ihm selbst, und das ist typisch für das 19. Jh. Da spiegelt der Meeresabgrund nicht mehr nur die Angst vor den Gewalten der (göttlichen) Natur, sondern wird zum Spiegel der Menschenseele, im Guten und Bösen. „Mensch, nie hat jemand deine Abgründe ausgelotet; Meer, keiner kennt deine Schätze“, schreibt Arthur Rimbaud. „Und doch bekämpft ihr euch ohne Reue und Erbarmen, o ewige Kämpfer, o unversöhnliche Brüder!“

Von dieser Romantik wie von den Gut-versus-Böse-Mythen hat sich viel in unsere Weltsicht gerettet, wo das Meer auf andere Weise Spiegel menschlicher Sünde wird. Einst ein Dämon, ist der Wal heute ein Symbol paradiesischer Unschuld, bedroht vom Zerstörer Mensch. In der Dokumentation „Leviathan“ von 2012 etwa ist das Monströse der Massenfischfang. Und in den apokalyptischen Warnungen vor der menschlichen Hybris klingt immer noch Schillers Taucher nach, der im Meer „Ungeheuer“ wie Molche, Rochen und Drachen erblickt: „Und der Mensch versuche die Götter nicht / Und begehre nimmer und nimmer zu schauen, / Was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.“

Nirgends wird das im 20. Jahrhundert so sichtbar wie im Kino. Im stilprägenden Disney-Abenteuer „20.000 Meilen unter dem Meer“ von 1954 wird die Nautilus von Kernkraft angetrieben, 1954 lief auch das erste Atom-U-Boot (Nautilus!) vom Stapel. Disney fand Atomkraft gut, nicht alle Filmemacher sahen das so. Ebenfalls 1954 machte in Japan eine Aufarbeitung des atomaren Traumas weltweit Furore: „Godzilla“, die durch nukleare Tests aus ihrem Schlaf am Meeresgrund geweckte Urzeitechse, verkörperte die Ängste nach Hiroshima.

Im Zeichen atomarer Angst. In dieser Zeit stürmten Angreifer aus der Meerestiefe das Kino, und meist waren sie vom Menschen verschuldet. Ishirô Hondas düsterer Film war auch ein zugkräftiges Modell, das man billig abkupfern konnte: Das wellenförmige (Wieder-)Auftauchen von Seeungeheuern im Kino war immer von einem Erfolgsmodell inspiriert, und die erste dieser Wellen stand im Zeichen der atomaren Angst. Da ließ etwa der findige B-Film-Produzent Roger Corman in schnell gedrehten, zunehmend komischen „creature features“ Meeresbewohner durch Radioaktivität riesig werden, ob Amöbe („Monster from the Ocean Floor“, 1954) oder Krabbe („Attack of the Crab Monsters“, 1957). Mit der „Creature from the Haunted Sea“ (1961), die eher an das „Sesamstraße“-Krümelmonster erinnert, landete der Zyklus ganz in der Selbstparodie: Gangster erfindet mythisches Seeungeheuer – das dann wirklich kommt und die Räuberbande holt.

1975 leitete Steven Spielbergs „Der weiße Hai“ (1975) den nächsten aquatischen Schreckensboom ein. Er traf einen Nerv, bot den von Vietnam und Watergate gebeutelten USA bei allem Horror Optimismus. Zwar stirbt im Kampf gegen den Hai der bärbeißige Veteran, der für die Vergangenheit steht. Aber die zwei Vertreter von Law-and-Order-Mittelklasse und Technokratie siegen: die Fusion für die US-Zukunft, verkörpert von wichtigen Wählergruppen für den nächsten Präsidenten Jimmy Carter.

Eine Flut ideenarmer Imitate folgte. Trotz immer abstruserer Fantasien kamen die Ängste der Ära immer näher, bis ins Süßwasser. In Joe Dantes brillanter Action-Satire „Piranhas“ (1978) sind die tödlichen Fische Überbleibsel einer Genzüchtung des Militärs, geplant für den Einsatz in Vietnam. In John Frankenheimers Ökohorror „Prophezeiung“ (1979) produziert ein durch Industriechemikalien verseuchter Fluss im Indianerreservat Mutantenbestien zu Wasser und Land.

Besuch aus anderen Galaxien. Das griff kürzlich der südkoreanische Erfolgsfilm „The Host“ (2006) auf, eine sozialkritische Ausnahme im jüngeren Seemonsterkino, obwohl das Genre immer wieder Saison hat: Aktuell bietet „Pacific Rim“ Seeungeheuer aus einer anderen Galaxie in Anlehnung an den fantastischen Literaten H.P. Lovecraft – das Gegenbild waren die wohlwollenden Aliens in James Camerons „Abyss“ (1988), der in einer Unterwasser-Horrorwelle auftauchte, zu der Filme wie „Leviathan“ (1989) gehörten.

Neue Ängste wie der Raubbau an Ressourcen spielen in einer aktuellen Revitalisierung des Genres aber keine Rolle: Der Syfy-Channel liefert seit ein paar Jahren das Gegenstück zu den 50er-Billigfilmen mit TV-Produktionen über Genmonster-Mutationen mit selbsterklärenden Titeln wie „Sharktopus“ (2010).

Eine schlägt gerade im Internet Wellen. Schließlich erobern da die Angreifer aus dem Meer nicht nur das Land, sondern die Luft: In „Sharknado“ bringt ein Tornado voller menschenfressender Haie den Tod.

»Monster« des Meeres

Riesenkalmare. Haben zehn Arme. Das größte entdeckte Tier maß 13 Meter. Leben wahrscheinlich unter 300 Metern Tiefe.

Seeschlangen.Werden anders als in den Mythen nur bis zu knapp über zwei Meter lang. Ihr Gift ist eines der wirksamsten überhaupt.

Pottwale. Legendär durch „Moby Dick“. Leben v. a. von Tintenfischen, fressen auch Riesenkalmare und tauchen bis über 1000 Meter tief.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2013)

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