Mit 17 zum ersten Mal allein am Meer

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Erzähl mir Meer. Wie ist das, wenn man am Meer lebt? Und muss man das Meer mögen? Sechs Autoren erzählen. Von Steinen, die an den letzten Strandurlaub erinnern. Von haushohen Wellen an Deck - und von einer Kindheit ohne Sandburgenbauen am Strand.

Ich fremdle mit dem Meer. Ich kenne es nicht richtig. Ich habe keine Beziehung zu ihm, zumindest keine von jenen Beziehungen, die nur entstehen können, wenn einem etwas von klein auf vertraut ist. Ich war nämlich nie am Meer, als Kind.

Es waren immer seltsame Momente nach den großen Ferien. Die Schulkollegen erzählten vom Urlaub, und Urlaub hieß: Meer. Braun gebrannt waren sie, die Haare eine Nuance heller als noch bei der Zeugnisverteilung, und sie zeigten ihre kleinen, inzwischen verheilten Schrammen her: „Da hab ich mich beim Schnorcheln am Felsen aufgeschürft.“ „Da hab ich mich beim Sonnenschirm eingezwickt.“ Es klang alles so leicht und gleichzeitig so aufregend. Alle anderen – auch jene, die heuer nicht am Meer gewesen waren – verstanden sofort, was gemeint war. Bloß ich musste viel Kraft aufwenden, um es mir vorzustellen: Wie sie Sandburgen bauten und Eis aßen. Wie sie sich, später dann als Teenager, heimlich in die Stranddisco schlichen. Und wie weh es getan haben muss, wenn man auf eine Qualle stieg oder in der Disco den falschen Typen erwischte.


Urlaub in Český Krumlov. Ich hingegen hatte nie etwas zu erzählen, was irgendjemanden hätte interessieren können. Ich war mit meinen Eltern immer nur an Orten, die niemandem sonst als Urlaubsdestination eingefallen wären. Freiburg im Breisgau. Český Krumlov in Zeiten des Realsozialismus. Dort gab es geschnitzte gotische Altäre, Heimatkundemuseen, Burgruinen, Grabsteine mit Inschriften, Glasvitrinen mit staubigen aufgespießten Insekten. Für uns Kinder war das alles gar nicht so schlimm. Bloß sagen konnte man es niemandem. Freiburg im Breisgau, Český Krumlov: Da zogen die Grado-Kinder bloß ratlos eine Braue hoch und sahen einen mitleidig an wie ein seltsames, ungeschicktes Tier.

Ich musste siebzehn werden und allein losfahren, um zum ersten Mal in meinem Leben ans Meer zu kommen. Ich erinnere mich, wie überrascht ich war, dass das Salzwasser einen trägt. Wie viel Zeug drin herumschwimmt. Dass der Sand sich nicht so standhaft türmen lässt wie jener in der Sandkiste. Ich schaute mich um, nach all den ehemaligen, inzwischen älter gewordenen Grado-Kindern, die immer noch, ganz selbstverständlich, Dinge taten, die mir unendlich exotisch erschienen: Man cremt sich gegenseitig den Rücken ein. Man legt sich auf ein Badetuch und schaut in die Luft, einfach so. Dann geht man sich ein Eis holen und malt mit den Zehen Muster in den Sand.

Ich fühlte mich wie eine Neoimmigrantin auf einem fernen Kontinent, lauschte den Menschen, als unterhielten sie sich in einer fremden Sprache, und erschrak, wenn das, was sie sagten, eh genauso klang wie daheim. Ich versuchte, mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Bemühte mich um einen gleichgültig-gelangweilten Blick und hatte Angst, beim Sonnenschirmaufklappen oder Muster-in-den-Sand-Malen Fehler zu machen, die mich als totale Anfängerin verraten würden. Bleibt der Sand eigentlich auf einem picken? Wischt man ihn mit dem Handtuch ab? Geht er besser runter, wenn er nass oder wenn er trocken ist? Und was passiert, wenn die Flut kommt?


Nie mehr als ein paar Stunden. Klar war ich seither am Meer, gar nicht so selten. Es ist ja oft Meer in der Nähe, wenn man aus privaten oder beruflichen Gründen irgendwo ist, und wenn das Meer schon einmal da ist, setzt man sich halt immer wieder davor, schaut aufs Wasser, hört den Wellen zu und malt Muster in den Sand. Aber es war nie länger als ein paar Stunden. Es ist nie, für ein paar Tage oder ein paar Wochen, dasselbe Meer, dieselbe Bucht, derselbe Strand, es ist nie ein richtiger „Urlaub am Meer“ geworden. Es fremdelt immer noch.

Unsere Kinder kennen weder Grado noch Antalya. Sie haben noch nie in einem familienfreundlichen Ferienapartment geschlafen und noch nie in einem All-inclusive-Club. Ab und zu waren sie irgendwo ein paar Stunden lang am Meer, aber seltsamerweise fahren auch wir meistens an Orte, die anderen eher selten als Urlaubsdestinationen einfallen. Mal schauen, über wie viele Generationen das Fremdeln noch weitergereicht wird.

Sibylle Hamann

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2013)

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