Lasst uns Heimat bauen!

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Symbolbild(c) BilderBox (Erwin Wodicka)
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Die einen, Zuwanderer, heimatlos, suchen die Heimat in der Fremde. Den andern, den Eingesessenen, die zu Hause geblieben sind, wird die eigene Heimat fremd. Sind wir ein Kontinent der Heimatlosen geworden?

Wollen wir über Heimat reden? „Hat der Mensch sich erfasst“, so heißt ein berühmter Satz von Ernst Bloch in seinem „Prinzip Hoffnung“,„und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ Das ist etwas Neues: eine Heimat, die in der Zukunft liegt und nicht in der Vergangenheit. Es ist die Utopie vom Nachhausekommen. Bloch nennt das die Utopie vom Umbau der Welt in Heimat.

Von Heimat ist heute viel die Rede. Einmal, weil wir in einer Zeit der Völkerwanderungen leben und Millionen Menschen ihre Heimat verlassen oder verlassen haben, freiwillig oder unfreiwillig. Sie sind heimatlos oder, besser, auf der Suche nach Heimat. Sie suchen die Heimat in der Fremde, hoffen darauf, dass diese sich eines Tages in eine Heimat verwandelt. Und zum Zweiten, weil in unserer Epoche der rasanten Veränderungen aller Lebensverhältnisse auch vielen, die zu Hause geblieben sind, die eigene Heimat fremd geworden ist. Sie schauen sich um und stellen fest: Nichts ist mehr so, wie es war, als sie Kinder waren. Alles schaut anders aus, die Häuser, die Straßen, die Landschaft und auch die Menschen, die auf einmal hier leben und früher anderswo gelebt haben. Das ist verwirrend und macht nicht selten auch Angst. Manche sagen dann: Früher war alles besser. Sie sehnen sich nach der Welt ihrer Kindheit. Und andere, wie eben Ernst Bloch, halten es mit dem Prinzip Hoffnung, suchen die Heimat in der Zukunft und wollen die Welt in Heimat umbauen.

Fromme Leute haben diese zukünftige Heimat seit je im Himmel gesucht. Sie reden vom Heimgang, wenn sie Sterben meinen. Sie sagen ewige Heimat, wenn sie das Paradies beschreiben wollen. Im Himmel, in der ewigen Heimat – so lautet die Hoffnung –, kann man sich zu Hause fühlen, auch wenn man in der Welt und in den Umständen, in denen man lebt, immer ein Fremder geblieben ist. Aber wie ist der Himmel? Wie sieht es dort aus?

Die Künstler des Barock haben darüber sehr genaue Vorstellungen gehabt. Sie haben den Himmel immer wieder gemalt, in unzähligen Deckengemälden in ganz Europa. Man schaut hinauf und sieht den Himmel offen, nur ein paar Meter über dem eigenen Kopf. Im barocken Himmel wohnen die Engel und die Heiligen, es gibt dort viel Musik, denn die Engel sind große Musizierer. Viele von ihnen halten Musikinstrumente in den Händen, Trompeten und Geigen, Flöten und Harfen. In der himmlischen Heimat, das gehört zur Utopie vom Nachhausekommen dazu, findet man wieder, was man in der irdischen Heimat besonders geliebt hat.

Es gibt, und zwar in Melk, ein Deckengemälde von Paul Troger, auf dem die Pallas Athene über den Himmel fährt, in einem Wagen, der von zwei Löwen gezogen wird. Was macht die Pallas Athene in einem Benediktinerstift?, könnte man fragen. Eine heidnische Göttin in einem christlichen Kloster? Und was machen die Löwen imHimmel? Die Pallas Athene ist das Sinnbild der Weisheit, sie fährt vom Dunklen ins Licht, sagen die Kunsthistoriker, vom Bösen zum Guten. Und die Löwen sind Symbole der Kraft. Aber für den barocken Maler gehörte wohl die Welt der Antike zum selbstverständlichen Arsenal seiner Bildung. Sie umgab ihn auf Schritt und Tritt. Auf sie wollte er auch im Himmel nicht verzichten.

Und in einem Himmelswagen fährt der heilige Benedikt über das Firmament, der Gründer des Benediktinerordens. Er durchmisst den Himmel wie in der antiken Götterwelt der Sonnengott Apoll, vom Aufgang bis zum Untergang. Seinen Wagen ziehen ein Kamel und ein Elefant. Die Zugtiere kommen von weit her, aus Afrika und Asien. Die ganze irdische Schöpfung findet sich in diesem benediktinischen Himmel wieder. Hier ist die irdische Welt umgebaut zur ewigen Heimat, und zwar für die Menschen und auch für die Tiere aller Kontinente. Pallas Athene, die streitbare Kluge aus Griechenland, und Benedikt, der Mönch aus Italien, jede Menge Engel, Löwe, Kamel, Elefant – sie alle sind Bewohner des Trogerschen Paradieses, in das der Künstler eines Tages wohl auch selber einzugehen hoffte.

Auch die frühen Sozialisten haben übrigens das Paradies, die utopische Heimat, in der Zukunft gesucht, in einer erst zu schaffenden Gesellschaft, in der auch die Armen und Entrechteten, die Verdammten dieser Erde, ihren Platz finden würden. Als aus der Utopie der real existierende Sozialismus wurde, entpuppte er sich freilich nicht als Paradies, sondern als Hölle.

Mein eigenes Paradies, der Ort, wo ich geboren und aufgewachsen bin, war und ist meine Heimatstadt Prag. Das Prager Barock hat mich fürs Leben geprägt. Die Kirchen und die Paläste, in denen zur Zeit meiner Kindheit meistens noch dieselben Familien wohnten, die sie einst gebaut hatten. Die Heiligenfiguren auf den Dächern, wie sprungbereit, als ob sie jeden Augenblick abheben und in den Himmel davonfliegen wollten. Und auf dem Wenzelsplatz das Denkmal des heiligen Wenzel, des Landespatrons Böhmens und für Tschechen wie für Deutsche das Symbol guter und gerechter Regierung. Um ihn herum die anderen Landespatrone, Prokop und Adalbert, Ludmilla und Agnes, verehrt und geliebt von allen Landeskindern beider Nationen, Frommen und Unfrommen. Und die vielen Gärten, in denen im Frühling so wunderbar der Flieder blühte.

Für mich war das alles der Inbegriff des Schönen; das Schönste, was ich mir überhaupt vorstellen konnte. Das Prag meiner Kindheit war eine Stadt der Tschechen und der Deutschen und nicht zuletzt der Juden, von denen viele Deutsch, aber viele auch Tschechisch als Muttersprache hatten. Sie alle lebten nicht unbedingt miteinander, aberdoch einigermaßen friedlich nebeneinander. Heimat, geliebte Heimat, war die Stadt für sie alle. Ich gehöre zur letzten Generation, die das noch erlebt hat. Für die Jungen ist diese Epoche Geschichte, so weit entfernt wie der Dreißigjährige Krieg. – Kindheit und Heimat gehören zusammen, sie sind Geschwister. Als ich ein Kind war, hatte in meiner Familie der Nationalismus noch nicht triumphiert. Wir wohnten in einer Stadt mit einer tschechischen Mehrheit und einer deutschen Minderheit. Wir gehörten der deutschen Minderheit an, aber wir fühlten uns weder als Deutsche noch als Tschechen. Mein Vater, ein altmodischer Mensch, nannte sich selbst einen „Böhmen deutscher Zunge“. Diesen Begriff hatte der Philosoph Bernard Bolzano geprägt, ursprünglich ein katholischer Priester, der in der Zeit vor 1848 für eine gemeinsame böhmische Identität jenseits nationaler Zugehörigkeiten eingetreten war. Ein „Böhme deutscher Zunge“ ist jemand, dessen Patriotismus und dessen Heimatbegriff sich an seinem Land orientieren und nicht an seiner Sprache.

Mit dieser Art von Heimat war es vorbei, als die Nazis kamen. Man war nicht mehr Böhme, man war Deutscher oder Tscheche. Als die Nazis kamen, war die Alternative für die Tschechen im Lande, sich germanisieren zu lassen oder einer ewigen Unterschicht anzugehören, ohne Chance auf Bildung oder Karriere. Wer „rassisch wertlos“ war, sollte nach dem „Endsieg“ in den Osten deportiert werden. Und wer zwar „rassisch wertvoll“, aber germanisierungsunwillig war, musste mit Liquidierung rechnen. Tausende bezahlten ihren Widerstand mit dem Leben.

Und als die Naziherrschaft zu Ende war, kehrten sich die Verhältnisse um. Jetzt mussten die Deutschsprachigen das Land verlassen. Unter ihnen auch meine Familie. Die Juden waren schon vorher ermordet oder vertrieben worden. Ein Land, eine Stadt, Heimat für verschiedene Volksgruppen – damit war es vorderhand vorbei.

Viele Jahre später, die Kommunistenherrschaft neigte sich ihrem Ende zu, war der Prager Wenzelsplatz der Schauplatz der sogenannten sanften Revolution. Jeden Tag versammelten sichTausende, später Zehntausende, endlich Hunderttausende Demonstranten und forderten in Sprechchören Demokratie. Ich ging damals immer schon am Vormittag hin, am Nachmittag war es nichtmehr möglich, da war der Platz schwarz von Demonstranten. Um den heiligen Wenzel herum breiteten sich Blumen und Kerzen aus, Inschriften und Plakate und die Bilder aller guten Geister der böhmischen Geschichte, von Jan Hus bis Václav Havel. Die Krönung war ein Banner auf der Lanze des Heiligen Reiters, mit der Aufschrift „Freie Wahlen“. Mir war nie klar, wie es da hinaufgekommen war, ohne Kran. Das Ganze sah aus wie eine Mischung aus Popkunstwerk und Wallfahrtsaltar. Eine Art modernes Barock.

Einer rief eine Losung. Wenn sie denMenschen gefiel, nahmen sie sie auf und wiederholten sie in einem gewaltigen Chor. Eine dieser Losungen, von einer riesigen Menschenmenge gerufen, lautete: „Wir wollen zurück nach Europa.“

Von der Europäischen Union war damals noch keine Rede. Was die Menschen meinten, war ganz einfach: Wir wollen dorthin, wo wir hingehören, wo wir immer hingehört haben, in die Region, wo Freiheit, Rechtsstaat, Wohlstand herrschen. Was haben wir im Ostblock verloren?

War das der Ruf nach einer neuen Heimat, die in der Zukunft liegt? War es das, was Ernst Bloch als Utopie formulierte? Es lohnt sich, sich vor diesem Hintergrund den Satz noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. „Hat der Mensch sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

Wenn man diesen Satz und diese Sehnsucht, artikuliert von Menschen, die jahrzehntelang in Unfreiheit gelebt hatten, mit unserer heutigen Diskussion rund um die Europäische Union vergleicht, so klingt das ziemlich abgehoben. Heute hören wir von Rettungsschirmen und Schuldenschnitten, von armen Südeuropäern, die unter Sparzwängen leiden, und von reichen Nordeuropäern, die nicht einsehen, warum sie für ihre weniger glücklichen Nachbarn mehr und immer mehr zahlen sollen. Wir hören von Gipfelkonferenzen und Verteilungskämpfen. Wenige kennen sich in all den Zahlenspielen und Krisenprogrammen noch wirklich aus. Und die Vision von einem Europa, in dem viele Völker nach Jahrhunderten von Feindschaft und Krieg ihre gemeinsame Heimat sehen, scheint in weiter Ferne.

Und doch war es diese Vision, die am Anfang der Bemühungen um ein gemeinsames Europa stand. Viele kleine konkrete Schritte sollten dorthin führen – eine gemeinsame Behörde für Kohle und Stahl, eine gemeinsame Leitungskommission, eine gemeinsame Währung, ein gemeinsames Parlament. Allmählich sollten die Nationalstaaten überwunden werden, so hatten es sich die Gründerväter vorgestellt, aber in Ernst Blochs Worten ohne Entäußerung und Entfremdung. Das kleine Eigene sollte nicht verschwinden, sondern mitgenommen werden ins große Gemeinsame. Ein Kontinent europäischer Bürger, ein Konzert der Stimmen, das gleichwohl keine Kakofonie, sondern ein harmonisches Ganzes bildet.

Davon ist heute nicht mehr viel die Rede. Im Gegenteil. In vielen Ländern sind nationale Bewegungen entstanden, die ihr Heil in der Losung „Los von Brüssel“ suchen. Und auch innerhalb der europäischen Nationalstaaten werden die Stimmen immer lauter, die für Trennung von Volksgruppen eintreten, die lange miteinander gelebt haben. Die wenigen multinationalen Staaten, die es nach dem Zweiten Weltkrieg noch gegeben hat, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, sind zerfallen. Belgien, Heimat für Flamen und Wallonen, wird nur mehr durch wenige Institutionen mühsam zusammengehalten. Viele Katalanen wollen weg von Spanien, viele Schotten weg von Großbritannien. Immer kleinere Einheiten, weg vom Großen, hinein ins Kleine.

Und vielen ist auch die kleine, engere Heimat verleidet durch den Zustrom von Zuwanderern aus anderen Erdteilen, die heute einen Teil der europäischen Bevölkerung bilden. Kommt uns die Heimat abhanden? Diegrößere haben wir nochnicht, die kleinere ist angeschlagen. Sind wir ein Kontinent der Heimatlosen geworden? Die Zuwanderer, vielfach nicht willkommen geheißen im neuen Land, sowieso. Und die Eingesessenen auch? Wo ist mein Heim, mein Vaterland?, heißt es in der tschechischen Nationalhymne. Diese Frage stellen sich viele Europäer heute auch.

Manchmal muss man weit weg sein von Europa, um zu erkennen, was man an diesem gebeutelten und neuerdings viel geschmähten Kontinent hat. Ich erinnere michan eine Journalistenreise in die USA vor einigen Jahren. Medienleute aus mehreren europäischen Ländern waren dabei. Man war höflich miteinander, aber fremd. Bis die ganze Gruppe eines Abends in einem Kaff im Staat Arizona saß, unter lauter Amerikanern, durchaus freundlichen Menschen, und sich plötzlich ihrer Gemeinsamkeiten bewusst wurde. Und mit einem Mal wusste jeder und jede, dass sie alle in erster Linie Europäer waren. Plötzlich fanden sie und zählten auf, was sie alles verband. Es war eine ganze Menge.

Die Europäische Union, nicht zu reden von der Weltgemeinschaft, funktioniert im Augenblick nicht so gut, aber in der Zivilgesellschaft, so kann man feststellen, gibt es bereits eine große Zahl von Menschen, die ihre Heimat in übernationalen und internationalen Gruppierungen gefunden haben, auch über Europa hinaus. In den großen wissenschaftlichen Institutionen versammeln sich Forscher aus aller Herren Ländern. Nationale Grenzen sind irrelevant geworden. Opernkompanien, Fußballmannschaften, Künstlergruppen sind meist aus mehreren Nationen zusammengewürfelt. Und unter den jungen Leuten, die in diesem Sommer wieder auf allen Straßen und Bahnlinien unseres Kontinents unterwegs sind, gibt es längst eine Verbundenheit und Gleichgestimmtheit, die die alte Generation staunen macht. Sie alle sind die Avantgarde einer Entwicklung, die in die Zukunft weist und auf eine Art von Heimat, worin laut Ernst Bloch noch niemand war.

Die Utopie ist der Umbau der Welt zur Heimat. Und, ja: Sternstunden haben es an sich, dass sie nicht ewig dauern, sondern kurze Momente sind, in denen etwas aufblitzt, was sein könnte. Kurze, kostbare Augenblicke, in denen nicht die Brutalen und Lauten im Vordergrund stehen, sondern die Mutigsten, die Besten. Diejenigen, die zeigen, was alles möglich sein könnte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2013)

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