Der Impfschutz und das Wohl des Kindes

Gastkommentar. Zu den Grundrechten des Kindes gehört das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit.

Vor einigen Jahren in Wien: ein Frühlingstag in einem Park, in dem ich mit meinen Kindern den Nachmittag verbringe. Neben mir eine andere Mutter, elegant, gebildet. Ihre Kinder spielen in der Sandkiste. Darunter ihre kleine Tochter, quengelig – Wangen und Augen gerötet. Ihre Erklärung: „Ja, die Kleine ist krank, sie hat die Masern. Diese Krankheitserfahrung wird ihr guttun und einen Entwicklungsschub bewirken.“

Was bewegt Eltern dazu, ihre Kinder mit vollem Bewusstsein einer „Krankheitserfahrung“ auszusetzen? Und mit ihnen einen öffentlichen Spielplatz zu besuchen? Masern sind keine harmlose Kinderkrankheit, sie sind hochinfektiös und potenziell tödlich. Ungeimpfte Kinder sind einem hohen Risiko ausgesetzt und können auch andere Menschen, die noch nicht oder gar nicht geimpft werden können, da sie beispielsweise immundefizient sind, anstecken.

Das „Kindeswohl“ ist in aller Munde. Entspricht allerdings die Bereitschaft, das Kind impfen zu lassen, der Verpflichtung, das Kindeswohl im Fokus der elterlichen Aufgaben zu sehen? Natürlich steht den Eltern Autonomie zu, das Kind nach ihren Vorstellungen zu erziehen. Wie weit geht diese? Zu den Grundrechten des Kindes gehört das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit. Ist dies gegeben, wenn wirksame Maßnahmen bewusst vorenthalten werden?

Wirksame Impfungen

Impfungen gehören zu den größten Errungenschaften der Medizin und haben viel zur steigenden Lebenserwartung und damit zum Wohlstand unserer Zeit beigetragen. Ohne sie wären viele Infektionskrankheiten, die heute keine Bedrohung mehr darstellen, eine große Gefährdung für den Menschen. Impfungen gehören zu jenen Maßnahmen, die – alle medizinischen Interventionen zusammengerechnet – am meisten Leben gerettet haben. Sie schützen nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Gemeinschaft durch die Herdenimmunität, die erworbene Immunität einer Population gegen einen Krankheitserreger.

Eine entsprechend hohe Durchimpfungsrate kann auch zur Ausrottung einzelner Krankheiten, wie etwa der Pocken im Jahr 1979, beitragen. Seltener werdende Krankheiten stellen nicht mehr eine offensichtliche Bedrohung dar, das sehr geringe Risiko der Impfstoffe für Nebenwirkungen oder Komplikationen wird oftmals überbewertet.

Beglaubigung vom Notar

Die „Zurück zur Natur“-Welle von Teilen der Bevölkerung trägt dazu bei, dass Impfungen gegen Infektionserkrankungen nicht so angenommen werden, wie sie es müssten. In Ländern wie den USA werden Eltern dazu verpflichtet, für einen entsprechenden Impfschutz ihrer Kinder zu sorgen. Ausnahmen sind nur nach Aufklärung in begründeten Einzelfällen und mit notarieller Beglaubigung möglich.

Impfschutz ist Kinderschutz und damit auch gesellschaftliche Verantwortung. In Deutschland wird derzeit aufgrund einer Masernepidemie ein Impfzwang diskutiert. Aber ist das eine gute Idee? Wenn auch einige Argumente für eine Verpflichtung sprechen, sollten wir eher die Länder als Beispiel heranziehen, in denen vor allem durch Aufklärung eine hohe Durchimpfungsrate erzielt werden kann, wie etwa Finnland.

Kinder sollten keinen eindeutigen und substanziellen Risken ausgesetzt werden, dies muss den Eltern von Ärzten und Behörden deutlich vermittelt werden. Dass hier auch die Medien gefordert sind, ist klar. Österreich gehört zu den Hochinzidenzländern der Masern. Der Staat muss sicherstellen, dass alle Kinder die notwendige ärztliche Hilfe und Gesundheitsfürsorge erhalten.

Die Autorin ist Vizerektorin der Medizinischen Universität Wien und Vorsitzende der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2013)

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