Amerikanischer Klassenkrampf

Amerikanischer Klassenkrampf
Amerikanischer Klassenkrampf(c) EPA (JIM HOLLANDER)
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Der Mittelschicht in den USA geht es wirtschaftlich so schlecht wie nie zuvor. Weder der Präsident noch die Republikaner scheinen willens und fähig, ihr zu helfen.

Wer ist Amerikas Mittelschicht? Paul Fussell, der 2012 verstorbene Pulitzer-Preisträger und scharfsichtige Beobachter seiner Nation, hat diese Frage vor 30 Jahren so beantwortet: „Die Neigung, sehr schnell unruhig zu werden, legt nahe, dass Sie zur Mittelschicht gehören und ständig besorgt sind, ein, zwei Stufen abzusteigen.“

„Statuspanik“ nannte das der Soziologe Charles Wright Mills schon Anfang der 1950er-Jahre. Doch anders als in den Wirtschaftswunderjahren ist die Angst der Mitte Amerikas vor der Deklassierung heute finanziell gerechtfertigt. Die Mittelklasse schrumpft. Und sie wird ärmer. Binnen einer Generation ist der Anteil dieser Gesellschaftsschicht an allen Amerikanern von 61 auf 51 Prozent gesunken. Das renommierte Pew Research Center nennt die jüngsten zehn Jahre ein „verlorenes Jahrzehnt für Amerikas Mittelklasse“. Ihr Wohlstandsverlust ist in den Statistiken der OECD abgebildet: In den USA ist das Medianeinkommen, also jenes, das genau in der Mitte aller Einkommen steht, allein von 2005 bis 2010 um vier Prozent gesunken und ist heute so niedrig wie zuletzt im Jahr 1996. Im benachbarten Kanada ist es gleichzeitig um zwölf Prozent gestiegen. In Österreich stieg es um neun, in Finnland um elf, in Schweden um 19 Prozent.

Dieser Abstieg der amerikanischen Mittelschicht hat viele Gründe. Jobverlust durch Globalisierung trifft längst nicht mehr nur Fließbandarbeiter. Laut US-Arbeitsministerium machte die große Rezession zwei Millionen Büroangestellte arbeitslos. Nicht einmal die Hälfte dieser Stellen ist seither wieder besetzt worden. Das ist strukturelle Arbeitslosigkeit, die sich in einen Kern der Gesellschaft frisst: in Werbeagenturen, Steuerberaterfirmen, Verlage, Architektenbüros.

Hausgemacht sind drei finanzielle Bürden. Erstens erzeugt die fixe Idee der Amerikaner, das eigene Heim sei der Anker des Familienvermögens, einen trügerischen Scheinwohlstand, solange die Immobilienpreise steigen. Doch wehe, wenn die Blase platzt: Allein im „verlorenen“ Jahrzehnt schrumpfte das Medianvermögen pro Familie um 28 Prozent von 129.582 auf 93.150 Dollar. Ein Großteil dieses Abstiegs ging auf den Wertverlust von Haus und Grund zurück.

Das verschärft das zweite hausgemachte Problem der Mittelschicht. Von 2000 bis 2010 stiegen die durchschnittlichen Kosten, einen Studenten ein Jahr lang zu unterrichten und auf dem Universitätscampus unterzubringen, um 42 Prozent, hält das National Center for Education Statistics fest. Viele Familien müssen Hypotheken aufnehmen, um das bezahlen zu können. Sinkt der Wert von Grund und Boden, wird für so manchen ein Studium nicht leistbar.

Die Politik schließlich dreht die Schraube noch fester zu. Präsident Obama hat es im Ringen mit dem Kongress zugelassen, dass die Lohnsteuer heuer von 4,2 auf 6,2 Prozent steigt. Somit muss jeder Amerikaner, der brutto zwischen 75.000 und 100.000 Dollar pro Jahr verdient, rund 1200 Dollar mehr an Washington abliefern. 1200 Dollar: Das entspricht ziemlich genau einem Monat Studium an einer öffentlichen Hochschule.

Obama könnte diese Fehlentwicklungen geradebiegen. Stattdessen verliert er sich in hochtrabenden Infrastrukturplänen. Niemand, der jemals einen sogenannten Freeway mit dem Auto zu befahren genötigt war, wird etwas gegen die Reparatur desselben sagen. Mit Appellen an die Banken, doch bitte „America Fast Forward“-Anleihen zu zeichnen, wird sich aber kein Schlagloch füllen und kein Schulgebäude isolieren lassen. Und was daran „ein besseres Angebot für die Mittelklasse“ sein soll, wissen wohl nur Obamas Einflüsterer.

Von den Republikanern darf sich die Mittelklasse auch nur wenig erhoffen. Ihr Rezept lautet: Steuern runter, deregulieren. Wenn das so toll funktionieren sollte, wie es die Aktivisten der Tea Party behaupten: Wieso hat der Mittelstand dann genau in den beiden Amtszeiten von Obamas Vorgänger George W. Bush ab dem Jahr 2000 so viel verloren?

Im schalldichten Politikeraquarium Washington sind Linke wie Rechte von den Anliegen der Mitte Amerikas abgeschnitten. Solange sich das nicht ändert, wird sie weiter erodieren.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2013)

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