Israel: Wenn sich für Mörder die Gefängnistore öffnen

Angehörige israelischer Attentatsopfer protestieren vor dem Obersten Gerichtshof in Jerusalem gegen die Freilassung palästinensischer Gefangener.
Angehörige israelischer Attentatsopfer protestieren vor dem Obersten Gerichtshof in Jerusalem gegen die Freilassung palästinensischer Gefangener.(c) EPA (ABIR SULTAN)
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In einer Kompromissgeste vor dem Auftakt der Friedensverhandlungen lässt Israel palästinensische Häftlinge frei. In Israel weckt das bei den Angehörigen der Opfer Zorn, bei Palästinensern Jubel.

Jerusalem. Als vertrauensbildende Maßnahme öffnet Israel am heutigen Dienstag die Gefängnistore für 26 palästinensische Häftlinge – die erste mehrerer Runden von Freilassungen, die in den kommenden Monaten die Atmosphäre der israelisch-palästinensischen Friedensgespräche verbessern sollen. Kaum ein Thema ist indes mit größeren Emotionen behaftet: für Palästinenser ein Anlass zum Feiern, für Israelis Grund zu Protesten.

Fida Abu Kharbisch traut ihrem Glück nicht: „Ich glaube nicht, dass er wirklich freikommen wird“, sagt die 77 Jahre alte Mutter von Mahmud. Seit rund 25 Jahren sitzt ihr Sohn in Israel in Haft – für fünffachen Mord. Jetzt soll er freikommen. Er befindet sich auf einer Liste von insgesamt 104 palästinensischen Langzeithäftlingen, die Israel in den kommenden neun Monaten entlassen will.

Die Angst der Minister

Nur wenige Kilometer von Fidas Haus in Jericho entfernt sitzt die 80 Jahre alte Geula Dolorosa in einer kleinen Wohnung in Jerusalem. Sie kocht vor Wut und Enttäuschung. Mahmud ist der Mörder ihres Sohns David. „Mörder sollten nie freikommen, sondern im Gefängnis sterben“, sagt sie resolut. Wochenlang belagerte sie Abgeordnete im Parlament, um gegen die Freilassung der Häftlinge zu protestieren – ohne Erfolg. Parlamentarier hörten zwar voll Mitgefühl zu, Minister mieden sie jedoch. „Sie können es nicht ertragen, Hinterbliebenen von Terroropfern in die Augen zu schauen und zu sagen: Die Mörder eurer Väter, Mütter oder Söhne kommen frei. Sie schämen sich dafür“, sagt Geula. Es sei so, „als bringe man David ein zweites Mal um“.

Fida und Geula erinnern sich noch genau an jenen schicksalhaften Tag, der ihr Leben veränderte. Die zweite Intifada tobte seit Monaten. Überall warfen Palästinenser Steine auf Israelis, die antworteten mit Tränengas, manchmal mit scharfer Munition. So auch in Jericho, wo ein Busfahrer einen Palästinenser erschossen hatte. Am 30.Oktober 1988, zwei Tage vor den Wahlen in Israel, wollte Mahmud Rache nehmen. „Er war erst 23 Jahre alt, und nicht besonders reif“, sagt sein Bruder Muhammad. Mahmud warf drei Brandsätze auf einen israelischen Bus, der durch die Stadt fuhr. Darin saß David.

Eine ganze Wand in Geulas Wohnzimmer ist seinem Andenken gewidmet. Fotos hängen neben Gedichten, in einer Vitrine liegen Gebetsriemen und das Gebetbuch, das er an jenem Tag bei sich trug. Der Bus fing Feuer. Die Insassen flohen – außer der 26 Jahre alten Rachel Weiß. Die Mutter von drei kleinen Buben saß in der letzten Reihe, direkt hinter David. Statt zu fliehen, legte sie sich in Panik schützend auf ihre Kinder.

Verzweifelter Rettungsversuch

„David versuchte minutenlang, sie herauszuzerren. Er konnte sie doch nicht einfach zurücklassen“, sagt Geula. Doch der 19 Jahre alte Soldat bemühte sich vergeblich, atmete dabei tödlichen Rauch ein. „Er sprang erst aus dem Bus, als sie das Gebet ,Schma Israel‘ anstimmte, das Juden seit Jahrtausenden sagen, bevor sie in den Tod gehen. Da verstand er, dass sie sterben würde.“ Zu spät für David. Zwei Monate rang er mit einer Rauchgasvergiftung, bevor er starb.

Die Armee riss das Haus seiner Familie ab. Bis heute liegt dort ein Trümmerhaufen. Das Attentat hatte Folgen: Am Tag nach der Beerdigung von Weiß und ihren drei kleinen Kindern gingen die Israelis wählen – und stimmten wütend für die rechte Likud-Partei.

Geula kämpft aus mehreren Gründen gegen Mahmuds Freilassung. Da sind Kindheitserinnerungen aus Jerusalem: Schon damals „stürmten die Araber freitags nach dem Gebet aus den Moscheen und schrien ,Itbah al Jahud!‘ – ,Schlachtet die Juden‘“, erzählt Geula. „Ich glaube nicht, dass die Araber Frieden wollen.“ Mit dieser Meinung ist sie kaum allein. Neun von zehn Israelis sind gegen die Freilassung von Mördern. Laut Statistiken begehen circa 50Prozent der Freigelassenen wieder Attentate.

Der Wunsch nach Rache

Geula hat auch ein persönliches Motiv. Wenn sie ihren Sohn nie lebendig wiedersehen kann, dann soll es die Mutter des Mörders auch nicht tun: „Vielleicht ist das auch der Wunsch nach Rache“, sagt sie achselzuckend. Ausgerechnet Fida kann das gut verstehen: „Hätte ihr Sohn meinen Mahmud ermordet, würde ich wahrscheinlich dasselbe sagen.“ Im Gegensatz zu anderen Palästinensern betrachtet sie Mahmuds Attentat nicht als Heldentat. Ihren Sohn sah sie bisher nur alle paar Wochen, im Gefängnis sprach sie 15 Minuten lang durch eine Glasscheibe mit ihm.

Trotz allem hegen beide Frauen einen frommen Wunsch: „Ich wünschte, Juden und Araber würden eines Tages so sein“, sagt Fida, und verschließt die Hände in einer Geste der Versöhnung. Auch Geula, die fließend Arabisch spricht, hat nicht alle Hoffnung aufgegeben. „Natürlich gibt es unter Arabern auch gute Menschen. Israel darf Häftlinge nicht freilassen, aber auch nicht aufhören zu versuchen, Frieden zu schließen.“

Auf einen Blick

Palästinenser-Häftlinge. Die Regierung in Jerusalem erklärte sich bereit, einen Tag vor Beginn der Friedensgespräche zwischen Israel und den Palästinensern 26palästinensische Langzeitgefangene freizulassen. Insgesamt sollen 104 Häftlinge freikommen. Opferverbände in Israel machten gegen die Entscheidung mobil, die Haftliste wurde lange geprüft.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2013)

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