Experte: "Das Recht geht am Volk vorbei"

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Der Soziologe Manfred Prisching warnt vor einer Erosion der Demokratie. Die Gesetze würden immer komplexer werden.

Alpbach. Wohin geht das Recht eigentlich, wenn es, wie Artikel 1 des Bundesverfassungsgesetzes feierlich verkündet, vom Volk ausgeht? Manfred Prisching, Soziologe an der Uni Graz, hat eine sehr ernüchternde Antwort: „Das Recht geht am Volk vorbei.“ Im Vorfeld der nächste Woche stattfindenden Alpbacher Rechtsgespräche nannte Prisching der „Presse“ dafür drei Gründe: nämlich die steigende Komplexität des Rechts, dessen „Informalisierung“ und dessen mehrfache Schichtung im europäischen Kontext. Um Demokratie unter diesen Umständen überhaupt noch möglich erscheinen zu lassen, bedürfe es einer Selbsttäuschung sowohl der Regierten als auch der Regierenden. Funktionieren diese Täuschungen nicht mehr, erodiert die Demokratie, warnt Prisching. Die Anzeichen dafür sind nicht zu übersehen.

In der Idealvorstellung gehört zur Demokratie neben normativen und institutionellen Rahmenbedingungen eine politische Öffentlichkeit, die über Vorschläge und Maßnahmen der Regierung diskutiert, die diese beurteilt und dann ihre Wahlentscheidung trifft. Folgende drei Entwicklungen lassen laut Prisching die rechtlich-demokratische Wirklichkeit immer stärker von diesem idealisierten Modell „wegdriften“:


•Die rechtlichen Materien werden immer komplexer und schwerer durchschaubar: im harmloseren Fall, weil sie – wie etwa Regelungen über Lebensmittelzusätze – technische Aspekte betreffen, die anders als gewisse straf- oder zivilrechtliche Grundregeln nicht unmittelbar einleuchten. Schlimmer seien „schicksalhafte“ Entscheidungen wie die Maßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschafts- und Europakrise, bei denen Stichwörter wie Derivate, Optionen oder Bad Bank und Abkürzungen wie ESM oder EFSF (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität) die weithin unverstandenen öffentlichen „Erklärungen“ dominieren. Prisching: „Es gibt im Parlament wahrscheinlich keine fünf Personen, die eine ausreichende Vorstellung darüber haben, was die meisten Begriffe bedeuten und was die Folgen einschlägiger Beschlüsse sind, von der Wählerschaft ganz abgesehen.“


•Die Informalisierung des Rechts erfolgt dadurch, dass außerrechtliche Regelwerke wie Compliance-Handbücher oder Corporate-Governance-Kodizes immer bedeutender werden. In komplizierten Rechtsfällen werden dann rechtlich nicht unmittelbar wirksame Regeln ins Rechtssystem importiert, ohne dass immer klar ist, wo die freundlichen Ratschläge aufhören und der faktische Zwang beginnt.


•Die Europäisierung des Rechts schließlich macht die verschiedenen gesetzgeberischen und judikativen Ebenen in einer Weise durchlässig, die den obersten Rang von Höchstgerichten ebenso wie von Verfassungen überholt erscheinen lassen. Die EU-Institutionen aber sind für die nationale Wählerschaft „unsichtbar“, die meisten der übereinandergeschichteten Regeln unzugänglich.

Eine esoterische Angelegenheit

All das macht das Recht zunehmend zu einer esoterischen Angelegenheit. Folge: „Die Grundidee, dass das Recht mehr oder minder vom Volke ausgeht, dass Parlamente relevante Drehscheiben sind, dass eine echte diskursive Öffentlichkeit über den Wandel der Regelsysteme befindet, wird endgültig zu einer irrealen Vorstellung“, sagt Prisching. In dieser Situation bedarf es der Selbsttäuschung der Wählenden, die diese fälschlich glauben macht, am politischen Prozess partizipativ mitzuwirken und die Regierenden auf Gemeinwohlkurs zu halten.

Die Politikanbieter wiederum täuschen sich mit der Einschätzung, die Wähler würden gute und insbesondere gemeinwohlorientierte Leistungen adäquat honorieren. Selbsttäuschungen, gewiss, aber segensreich. Denn wehe, sie funktionieren nicht mehr: Dann befindet sich für Prisching die Demokratie im Erosionsprozess. Wählern wird der politische Prozess gleichgültig, sobald sie ihn als ein Spiel anderer Leute erkennen; Politiker, die den Mehrwert von Manipulationskompetenz gegenüber verkannter echter politischer Leistung erkennen, lassen diese bleiben. „Prischnig: Dann werden Recht und Politik zu einer Experten-, Vertrauenszirkel- und Hinterzimmerangelegenheit, während die Öffentlichkeit auf Politikfolklore reduziert ist.“ Die sogenannte Postdemokratie wird solcherart Wirklichkeit.

Auf die Frage der „Presse“, ob nicht neue Bewegungen und Parteien – von Wutbürgern über Piraten bis Neos – einen Gegentrend signalisieren, antwortet Prisching pessimistisch: „Das Unbehagen wird von diesen Leuten zwar aufgegriffen, aber ich bin der Meinung, sie schaffen es nicht.“ Bei Wutbürgern und sonstigen Bewegungen komme nichts heraus, „weil sie keine Vorstellung von Politik haben“, sagt Prisching.

Der Soziologe diskutiert bei den Rechtsgesprächen am Montag in einer Woche mit Meinungsforscherin Karin Cvrtila, Autor Franzobel und dem Präsidenten des ungarischen Verfassungsgerichts, Péter Paczolay, über das Thema „Das Recht geht vom Volk aus. Wie kommt es zurück?“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2013)

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