Happy End am Everest

Der dritte Teil der „Jonas-Trilogie“ von Thomas Glavinic erzählt ein Märchen, jenes vom reichen, einsamen Mann und seiner Sehnsucht nach der großen Liebe. „Das größere Wunder“: inhaltsleerer Megakitsch.

Im Alphabet kommt Glavinic vor Gstrein. In der aktuellen Vorschau des Hanser-Verlags auch, aber nicht aus diesem Grund. „Das größere Wunder“, Thomas Glavinic' bereits zehntes Buch, ist ein Spitzentitel im Programm und kommt gleich nach Alex Capus (100.000 Auflage) und T. C. Boyle (75.000). Norbert Gstrein kommt erst an vierter Stelle. 50.000 Exemplare sollen verkauft werden von Glavinic' „großem Buch über die Liebe“, wie es heißt. Ist es das, ein großes Buch?

Jedenfalls ist es ein umfangreiches Buch. Immerhin 528 Seiten umfasst „Das größere Wunder“, der letzte Teil der „Jonas-Trilogie“, die Glavinic mit „Die Arbeit der Nacht“ begonnen und mit „Das Leben der Wünsche“ fortgeführt hat. Diesmal erwischt es Jonas am allerbesten: Zwar beginnt sein Leben ziemlich trostlos (Vater tot, Mutter trinkt), geht dann aber durch eine gnädige Fügung des Schicksals besser weiter: Jonas und sein behinderter Zwillingsbruder Mike werden von Picco, dem Großvater von Jonas' Freund Werner, adoptiert. Picco hat Geld (woher, kümmert keinen), so viel Geld, dass sich Jonas nie wird Gedanken machen müssen, womit er selbst welches verdienen könnte.

Alles eitel Wonne also, aber dann zeigt sich das Schicksal doch wieder ungnädig, und Jonas verliert nacheinander alle seine Bezugspersonen: Mike (der vom Dorfpostboten ermordet wird), Werner (der bei einer waghalsigen Fahrt mit einem Rollstuhl stirbt)und schließlich Picco (der sich just an Jonas' 18. Geburtstag umbringt, um seinem Krebsleiden ein Ende zu machen). Also steht Jonas am Beginn seines Erwachsenenlebens zwar mit jeder Menge Geld, aber auch ganz allein da. Das Geld gibt ihm Freiheit, das Alleinsein macht ihn einsam. Wonach er sich sehnt, ist die große Liebe. Sie zu finden, daran glaubt er felsenfest.

Zunächst findet er sie allerdings noch nicht, und auf vielen Seiten wird Jonas' höchst sinnloses Tun geschildert: Abwechselnd sperrt er sich jahrelang in einer Wohnung in Rom ein und jettet um die Welt, zwischendurch unternimmt er ab und zu einen Beziehungsversuch, gründet ein Kinderhilfswerk, lässt sich ein Baumhaus und eine Fünfmastbark bauen und rettet einem japanischen Anwalt dank seiner Wing-Chun-Kenntnisse das Leben.

Irgendwann aber begegnet Jonas dann tatsächlich seiner großen Liebe: Marie ist Popsängerin, versteht ihn wie kein anderer Mensch zuvor und – beschließt leider irgendwann, dass sie doch wieder Abstand braucht. Sie verlässt Jonas also, und diesem geht es daraufhin ganz schlecht, so schlecht, dass er glaubt, er könne den größten Kummer seines Lebens nur vergessen, wenn er den höchsten Berg der Welt erklimmt. Die Schilderung der Expedition auf den Mount Everest ist die zweite Erzählebene in „Das größere Wunder“, in der im Gegensatz zur ersten actionreicheren zunächst ziemlich wenig passiert. Es wird viel gewartet auf so einer Expedition, das Essen schmeckt nicht, man wandert ständig zwischen Lager X und Y hin und her, um sich an die Höhe zu gewöhnen, und belügt den Expeditionsleiter permanent über seinen Gesundheitszustand, das sind die hauptsächlichen Botschaften dieser Kapitel.

Dafür passiert am Ende dann umso mehr, wenn es zum großen Showdown kommt und Jonas den Everest dank seines unerschütterlichen Glaubens an die Liebeund trotz gebrochener Rippe und lockerer Zahnfüllung quasi im Alleingang bezwingt, Marie wieder auftaucht und die Erzählung in eines der kitschigsten Happy Ends mündet, die in den vergangenen Jahren in der deutschsprachigen Literatur geschrieben worden sind. Für Understatement ist Thomas Glavinic sicher noch nie bekannt gewesen.

Dass er es plakativ mag und zur Übertreibung neigt, bestätigt sein neuester Plot eindrücklich. Die Botschaft steht bei ihm meist nicht zwischen den Zeilen, sondern in den Zeilen, und das sehr deutlich. Das tut sie auch hier. „Das größere Wunder“ erzählt ein Märchen, das Märchen vom reichen, einsamen Mann und seiner Sehnsucht nach der großen Liebe. Ohne Liebe ist man nichts, glaubt man fest an sie, kann man sogar den Everest bezwingen. Denn: Die Liebe verleiht dem Menschen Zauberkraft. Im Grunde ist das die Kernaussage der rund 500 Seiten. Für ein Buch über so große Themen wie Liebe und Freiheit nicht gerade ultradicht.

Nun sind Glavinic-Bücher Effekt- und Affektbücher, sie sprechen das Gemüt mehr an als den Geist, leben von Spannung und Atmosphäre und von einigen wirklich originellen Einfällen. Klug sind sie nicht primär. Klug ist auch „Das größere Wunder“ nicht. Aber leider geht diesmal auch die Effekt-/Affekt-Rechnung nicht auf. Die Geschichte berührt nicht.

Die Story wirkt dermaßen an den Haaren herbeigezogen und so unglaubwürdig konstruiert, dass man sie Glavinic einfach nicht abkauft. Auch trägt er diesmal so dick auf, dass die Story zur Farce verkommt. Nirgendwo bohrt er in die Tiefe, sondern erzählt nur in die Breite, verliert sich in lauter unwesentlichen Kleinigkeiten und wird redundant. Natürlich sind da auch einige witzige Episoden dabei, aber insgesamt bleibt alles viel zu sehr an der Oberfläche, sodass auch jede Dringlichkeit fehlt.

Die Dialoge (vor allem jene auf 8000 Metern) könnten einer amerikanischen Sitcom entnommen sein, ihre Slapstickqualitäten sorgen zwar für einige Lacher, tragen zugleich aber wesentlich dazu bei, alles völlig unglaubwürdig wirken zu lassen. Und weil die Erzählung so ausufert, ist sie diesmal leider auch nicht spannend. Unheimlich ist auch nichts, nicht einmal das, was unheimlich sein könnte, etwa eine Nacht allein in der Todeszone, weil die Dialoge, die der delirierende Jonas da mit zwei Toten führt, nichts als komisch sind.

Das wenige, was tatsächlich über Liebe, Lebenssinn, Freiheit, Zeit gesagt wird, das ist so trivial-banal, dass es einem wirklich wehtut. Zwei Kostproben: „Liebe ist: den leuchtenden Punkt der Seele des anderen zu erkennen und anzunehmen und in die Arme zu schließen, vielleicht gar über sich selbst hinaus.“ Und: „Sinn, danach suchten alle, mehr als Sinn konnte man nicht finden.“

Man möchte glauben, das sei eine Persiflage, Thomas Glavinic parodiere die große existenzielle Sinnsuche des Menschen und seine ewige Sehnsucht nach wahrer Liebe. Aber diese Vermutung wird im Buch nirgendwo bestätigt. Nein, der Roman „Das größere Wunder“ dürfte ernst gemeint sein. „Ein großes Buch über die Liebe“ ist es allerdings nicht. Es ist überhaupt kein großes Buch. Daran ändert auch nichts, dass Thomas Glavinic aktuell für den mit 30.000 Euro dotierten Wilhelm-Raabe-Preis nominiert ist oder sein Roman auf der Longlist des mit 25.000 Euro ausgelobten Deutschen Buchpreises zu finden ist. ■

Thomas Glavinic

Das größere Wunder

Roman. 528 S., geb., €23,60
(Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.