Bandscheiben: Die Gefahr liegt in der Mitte

Bandscheiben Gefahr liegt Mitte
Bandscheiben Gefahr liegt Mitte(c) Erwin Wodicka
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Ein kleiner Bandscheibenvorfall – das diagnostizierten mehrere Ärzte bei Bernadette Grohmann-Németh. In Wirklichkeit schrammte die Autorin haarscharf an einer Querschnittlähmung vorbei.

Ich mag verschiedene Blickwinkel. Als Wissenschaftsjournalistin suche ich spannende Themen. Als Schriftstellerin möchte ich meinen Geschichten ein glückliches Ende und eine Aussage geben. Bei der folgenden Geschichte verdanke ich das glückliche Ende einer rechtzeitigen Operation. Aussage ist meine Empfehlung als Ärztin: Konsultieren Sie bei Bandscheibenvorfällen mit Rückenmarksbeteiligung stets eine Klinik mit einer Abteilung für Neurochirurgie.

Es fühlte sich an, als würde man sich den Ellbogen an der Türklinke anstoßen. Doch der stromschlagartige Schmerz durchzuckte den ganzen Rücken. Zum ersten Mal war mir dies beim Haarewaschen aufgefallen, als ich den Kopf nach hinten beugte. An die Nackenschmerzen, die mich seit Monaten plagten, hatte ich mich beinahe gewöhnt; ich war seit Jahren bei einem Orthopäden in Behandlung, nahm an seinem Wirbelsäulentrainingsprogramm teil und hin und wieder renkte er mir einen „blockierten“ Halswirbel ein. Woran ich mich nicht gewöhnen konnte, war das Taubheitsgefühl im rechten Arm.

Es hatte vor einer Woche begonnen, zunächst nur in den Fingern, dann ging es bis zum Ellbogen. Gleichzeitig mit den Schmerzen wuchs die Angst. Deshalb hatte ich mehrere Ärzte aufgesucht, zuletzt auch in einer auf Orthopädie spezialisierten Klinik. Sie hatten mir Schmerzmittel verschrieben und die Symptome vor allem „psychisch“ gedeutet. Als Turnusärztin wusste ich, dass Körper und Seele eng zusammenspielen. Dennoch ließ mich das Gefühl nicht los, dass noch etwas anderes dahintersteckte. Als der „Stromschlag“ bereits bei kleinsten Kopfbewegungen auslösbar war, beschloss ich, noch einmal die Klinik aufzusuchen.

Mittlerweile fühlte sich der ganze rechte Arm taub an. Davon und vom „Stromschlag“ berichtete ich dem Orthopäden. Kurz darauf stand ich wieder auf der Straße – mit einem Rezept für ein weiteres Schmerzmittel. Und einem extrem schlechten Gefühl – trotz der beruhigenden Worte des Arztes, laut dem nur eine leichte Lähmung des rechten Armes vorlag, möglicherweise ein kleiner Bandscheibenvorfall.


Wohin am Feiertag? Er war schon der vierte Arzt, der mir sagte, es sei alles in Ordnung. Eine Magnetresonanztomografie würde Klarheit bringen. Nur – im Privatspital hatte man keine durchführen können, es war der Silvestertag – und das Institut geschlossen. Woandershin hatte man mich nicht geschickt. Hektisch telefonierte ich verschiedene Institute durch, natürlich waren alle geschlossen. Plötzlich fiel mir meine Freundin ein, die im Krankenhaus Rudolfstiftung arbeitet. Sie war zwar auf Urlaub, doch ich beschloss intuitiv, noch dorthin zu fahren. Dies war die beste Entscheidung meines Lebens.

Die Wirbelsäule wird in Hals-, Brust-, Lendenwirbelsäule und Kreuzbein unterteilt. Zwischen den einzelnen Wirbelknochen liegen die Bandscheiben. Sie bestehen aus einem weichen Kern, umgeben von einem Knorpelring. Reißt dieser, kommt es zu einem Herausquellen des Inhalts – einem Bandscheibenvorfall. Dieser kann unterschiedlich behandelt werden. Primär ist eine Heilung ohne Operation anzustreben. Kleine Bandscheibenvorfälle können vom Körper selbst abgebaut werden.

Die Entscheidung zur Operation hängt nicht nur von der Größe ab, sondern auch von der Lokalisation. Unumgänglich ist ein operativer Eingriff bei einer Gefährdung des Rückenmarks, wie sie bei mittleren (medianen) Bandscheibenvorfällen auftritt. Das Rückenmark verläuft als Verlängerung des Gehirns, eingebettet hinter den Wirbelknochen, in der Mittellinie der Wirbelsäule. Durch diesen kleinfingerdicken Strang ziehen sämtliche Nerven, die für Bewegung, Sensibilität und alle anderen Funktionen zuständig sind. Das Rückenmark reicht bis zum Beginn der Lendenwirbelsäule, diese wird allerdings noch von Nerven für das Becken und die Beine durchzogen. Bei einer Verletzung des Rückenmarks sind alle Körperteile, die vom darunterliegenden Teil versorgt werden, taub bzw. gelähmt. Inkomplette Schädigungen können sich wieder erholen, was jedoch sehr lange dauert. Eine komplette Durchtrennung wird als Querschnittlähmung bezeichnet.

Das Rückenmark ist bei medianen Bandscheibenvorfällen der Hals- oder Brustwirbelsäule in Gefahr. Sterben Nervenfasern, etwa durch lang andauernden Druck, ab, geht ihre Funktion unwiederbringlich verloren. Zum Glück sind mediane Bandscheibenvorfälle selten; bei den häufigeren seitlichen sind empfindliche Nerven weniger betroffen. Dennoch sollte jeder Arzt die Symptome kennen. Auch in der unteren Lendenwirbelsäule sind mediane Bandscheibenvorfälle gefährlich. Ohne rasche Operation sind die Nerven gefährdet, die Becken, Beine, Ausscheidungs- und Sexualfunktionen betreffen.

Die Entscheidung, die Rudolfstiftung aufzusuchen, rettete mein – gesundes – Leben. Obwohl ich erst an eine Operation gar nicht dachte, wurde der diensthabende Arzt der neurochirurgischen Abteilung benachrichtigt. Im Gegensatz zu den Ärzten davor nahm er meine Symptome sehr ernst. Mittlerweile hatte sich das Taubheitsgefühl auf beide Arme ausgebreitet, es bestanden Lähmungen der Arme und der Finger. Selbst das Gehen fiel schon schwer, was ich selbst noch nicht bemerkt hatte, da die Augen das schwindende Koordinationsvermögen des Gehirns noch ausglichen. Hatte mich der Orthopäde nur beiläufig nach nächtlichem Stolpern gefragt, ließ mich der Neurochirurg mit geschlossenen Augen auf einer imaginären Linie gehen – zu meinem Erstaunen taumelte ich wie eine Betrunkene.

Die rasch durchgeführte MRT-Untersuchung bestätigte seinen Verdacht: Ein großer, medianer Bandscheibenvorfall zwischen fünftem und sechstem Halswirbel hatte das Rückenmark bereits bedrohlich gequetscht. Mittlerweile spürte ich das taube Gefühl bereits in beiden Beinen – erste Querschnittlähmungsanzeichen.

Wirbelsäulenoperationen werden von verschiedenen Ärzten durchgeführt. Ist das Rückenmark betroffen, sollte ein Experte für Gehirn und Rückenmark – also ein Neurochirurg – operieren. Bei einem Halsbandscheibenvorfall wird nach Entfernen der zerstörten Bandscheibe unter dem Mikroskop meist ein „Cage“ implantiert, ein gitterartiger Platzhalter aus Kunststoff, der innerhalb weniger Wochen von körpereigenem Knochen durchwachsen wird. Der obere und untere Wirbel sind dann an dieser Stelle fest miteinander verbunden, die Stabilität wiederhergestellt. Im Idealfall kann sich das Rückenmark nach Entfernung der Quetschungsursache erholen. Ob Symptome zurückbleiben, hängt jedoch vom individuellen Zustand, den Verletzungen oder der Dauer der Quetschung ab. Operiert wird von vorn (ventral). Vorteil ist, dass Nackenmuskeln nicht durchtrennt werden und die Rehabilitation schneller verläuft.

Die an der Operationsstelle fehlende Beweglichkeit wird im Fall der unteren Halswirbelsäule vom Patienten nicht wahrgenommen, da die Hauptbeweglichkeit von der oberen Halswirbelsäule ausgeht. In den letzten Jahren kamen mehrere neue, „bewegliche“ Bandscheibenprothesen auf den Markt. Sämtliche seriösen wissenschaftlichen Studien konnten allerdings keinerlei Vorteil gegenüber der konventionellen Operation zeigen, da die Produkte nicht in der Lage sind, die komplizierte Biomechanik der Halswirbelsäule korrekt zu imitieren. Daher ist derzeit eher davon abzuraten.

Obwohl der Neurochirurg Ruhe und Zuversicht ausstrahlte, fühlte ich mich wie vor einem schwarzen Tunnel. All meine Zukunftspläne wankten. Doch schon kurz nach der Diagnose wurde ich bereits operiert. Er hatte richtig entschieden: Vier große Bandscheibenstücke hatten das Rückenmark bereits stark gequetscht.

Den Silvesterwalzer hörte ich auf der Aufwachstation. Obwohl ich noch ruhig liegen musste, war ich bei einem Walzer selten so froh gewesen – weil ich mit Händen und Füßen wippen konnte. Am nächsten Tag konnte ich bereits aufstehen und den Kopf bewegen – der „Stromschlag“ war weg. Die restlichen Symptome verschwanden bald. Als einzige Erinnerung blieb eine erstaunlich kleine, kaum mehr sichtbare Narbe vorn am Hals.


Es gibt kein Irgendwann. Körperlich bin ich nach diesem Erlebnis fitter als früher: Seit der Reha ist Sport täglicher Bestandteil meines Lebens. Das Memento mori des Schicksals hat meinen Blickwinkel geändert: auf die Wichtigkeit der oft unterdrückten Intuition. Früher oft ängstlich, fürchte ich heute, angesichts der überstandenen Gefahr, nur noch wenig. Herzensprojekte wie das Schreiben meiner Bücher verschiebe ich nicht mehr auf irgendwann. Es gibt für mich kein Irgendwann mehr, nur noch ein Heute, bestenfalls ein Morgen.

Bandscheibenvorfall

Entstehung
Zwischen den Wirbelknochen liegen die Bandscheiben. Wenn deren Faserknorpelring reißt, quellt der gallertartige Kern heraus – und kann dabei in schlimmen Fällen das Rückenmark gefährden. iStockphoto

Die Autorin

Bernadette Grohmann-Németh(geb. 1979) ist Autorin, Ärztin und Medizinjournalistin aus Wien. Vor Kurzem erschien ihr erstes Kinder- und Jugendbuch für kranke Kinder im Spital, „Elmedin und der Zaubertukan“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2013)

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