Uri Avnery: "Wir wollten keinen Judenstaat"

Avnery wollten keinen Judenstaat
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Interview. 1933 nach Palästina ausgewandert, kämpfte Uri Avnery zuerst gegen die Araber, und setzte sich dann für den Ausgleich mit ihnen ein.

Rein äußerlich ist Uri Avnery, der am 10. September seinen 90. Geburtstag feiert, vom 70-jährigen kaum zu unterscheiden. Schlank und noch immer mit vollem weißen Haar und Bart, bewegt sich der israelische Friedensaktivist wendig durch seine Wohnung, die genauso ist, wie man sich die Wohnung von Uri Avnery vorstellen würde: Angefüllt mit Bücherregalen und Fotos. Viele zeigen ihn an der Seite des früheren PLO-Chefs und Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat. Fast immer stand bei diesen Fotos Rachel, Avnerys Frau, hinter der Kamera. 58 Jahre war das Paar zusammen, bis Rachel im Mai 2011 starb.

Die Presse: Sie waren zehn Jahre alt, als Sie aus Deutschland emigrieren mussten. An welche Ereignisse aus dieser Zeit erinnern Sie sich noch besonders lebhaft?

Uri Avnery: Ich war Augenzeuge des Aufstiegs der Nazibewegung und damit ein sehr bewusster Beobachter dessen, was in Deutschland in den Jahren 1931, 1932, 1933 passiert ist. Aber es gab auch schöne Zeiten: auf Norderney, in Travemünde und natürlich in Hannover, der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Wir waren vier Kinder, ich war der Jüngste. Außer meinen Eltern, den Geschwistern und mir sind alle in der Familie umgekommen.

Wie kam es zu der Entscheidung, aus Helmut Ostermann, der sie in Deutschland waren, Uri Avnery zu machen?

Mein älterer Bruder Werner ist im Weltkrieg gefallen, er war Soldat in der britischen Armee, und ich habe aus Werner Avner gemacht, daraus wurde Avnery, und Uri gefiel mir einfach.

Aber Sie sind 1933 gekommen, da lebte Ihr Bruder noch.

Ich habe meinen Namen einige Male gewechselt.

Dass Sie sich dann freiwillig der radikalen jüdischen Untergruppe Etzel anschlossen, werfen Kritiker Ihnen bis heute vor. Bedauern Sie Ihre Entscheidung im Rückblick?

Überhaupt nicht. Zu der Zeit war es das Richtigste, was ich hatte tun können. Es war eine Pflicht dafür zu kämpfen, dass das Land befreit wird.

... um anschließend den Judenstaat zu gründen?

Wir wollten keinen Judenstaat. Für uns war jüdisch, was im Ausland passierte, in der Diaspora. Was hier passierte, war hebräisch. Es gab eine hebräische Armee, eine hebräische Landwirtschaft, hebräische Arbeit und ein jüdisches Schtetl. Wir wollten eine neue Nation schaffen zusammen mit unserer natürlichen Schwesternation, also der, deren Angehörige hier im Land geboren waren: der arabischen Nation.

Heute würde man das die Einstaatenlösung nennen. Glauben Sie noch immer daran?

Absolut nicht. Das war damals meine Vorstellung, bis zum Krieg 1948. Meine Freunde und ich glaubten, dass dass wir die beiden Nationen auf der Basis der Liebe zum Land zusammenwachsen lassen könnten. Wie sich gezeigt hat, war das eine ziemlich naive Vorstellung.

Erst predigen Sie die Einstaatenlösun, und als der Krieg 1948 beginnt, melden Sie sich freiwillig in eine kämpfende Einheit. Ist das nicht ein Widerspruch?

Bei dem Krieg ging es für beide Seiten um Leben und Tod.

Ein Jahr nach dem Krieg kaufen sie die Wochenzeitung HaOlam Hase (Diese Welt) und zum ersten Mal sah man Nacktfotos am Kiosk.

Ja.

Warum die Nacktfotos?

Warum nicht?

Wollten Sie damit den Verkauf antreiben oder die Religiösen provozieren?

Beides. HaOlam Hase war die einzige wirkliche Oppositionszeitung im Land. Dabei ging es nicht um die Kritik gegen eine bestimmte Politik von (Israels erstem Ministerpräsidenten David) Ben Gurion, sondern wir standen auf ganzer Front gegen ihn. Wir lehnten sein Modell des Staates ab, seine Politik gegenüber den Arabern, den Rassismus, seine Position gegen eine Trennung von Staat und Religion, die Behandlung der Einwanderer aus den orientalischen Ländern, die Sozialpolitik, alles. Es war ein sehr harter Kampf.

... den Sie später in der Knesset (Parlament) fortsetzten.

Unsere Parole war: In die Knesset oder ins Gefängnis. Ben Gurion guckte wie ein Kängeruh, als ich Abgeordneter war, und er an mir vorbeiging.

Sie waren nicht nur Querdenker, sondern Sie haben auch gegen Gesetze verstoßen, als Sie Kontakte zur PLO aufnahmen. Wie war das, als Sie Arafat trafen?

Es war 1982 während des Libanonkrieges, der ja darauf abzielte, Arafat und die Fatach aus dem Libanon zu vertreiben. Zu Beginn des Krieges war ich einige Male im Libanon bei der Armee, dann bot sich die Gelegenheit, die Fronten zu überschreiten, und ich traf mich dann mit Arafat. Es war (lacht) der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Ich habe immer geglaubt, dass man mit Arafat Frieden machen kann und soll.

Sie wurden vor wenigen Jahren mit dem Satz zitiert: Ich hoffe und glaube, dass ich den Frieden noch erlebe. Ist das so?

Das kommt darauf an, wie lange ich leben werde. Mit 90 wird es langsam dringlich. Eigentlich stammt der Satz von Arafat. Bei ihm hat es sich nicht bewahrheitet.

Auf einen Blick

Uri Avnery (*geboren am 10. September 1923 in Beckum, Detuschland) ist der vermutlich bekannteste israelische Friedensaktivist. Der gebürtige Helmut Ostermann floh 1933 vor den Nazis nach Palästina, damals britisches Mandatsgebiet. Zunächst trat er der jüdischen Untergrundorganisation „Etzel“ bei, im ersten Nahostkrieg 1948 meldete er sich freiwillig zur Armee. 1965 bis 1973 und 1977 bis 1981 gehörte er der Knesset an, dem israelischen Parlament. Der aus dem linken Spektrum stammende Avnery setzte sich unermüdlich für einen Ausgleich mit den Palästinensern ein. Sein in Israel oft kritisierten Kontakte zur PLO hat er unter anderem in dem Buch „Mein Freund, der Feind“ verarbeitet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2013)

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