Chile, 40 Jahre nach dem Militärputsch: Ein Land übt sich im Entschuldigen

Pinochet
Pinochet(c) EPA (Ho)
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Am 11.September 1973 stürzten die Streitkräfte den sozialistischen Präsidenten Allende und übernahmen die Macht.

Die Schatten der Vergangenheit sind deutlich umrissen, schwarz und haben die Größe jener Hawker Hunter-Jets, die am 11.September 1973 die bis dahin längstwährende Demokratie Lateinamerikas zerbombten. Vier Düsenflugzeug-Silhouetten haben Künstler auf den Boden im Zentrum von Santiago de Chile gemalt, und alle zielen auf den dereinst von Jagdbombern beschossenen Präsidentenpalast „La Moneda“, vor dessen weißer Front heute wie damals eine riesige chilenische Fahne weht.

Diese Aktion ist eine von vielen anlässlich des 40. Jahrestages des Militärputsches gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende (siehe Text unten). Was die Aktivisten bezwecken, haben sie auf ein Transparent geschrieben: „Dass der Pakt des Schweigens endlich breche!“

Noch immer 1000 Vermisste

Auch wenn die Stadtverwaltung die Pamphlete an neun Brücken über den Río Mapocho bald abnehmen ließ, dürften sie ihre Wirkung nicht verfehlt haben: Am Sonntag zog ein langer Gedenkmarsch durch die Hauptstadt unweit der Anden, hunderte Tafeln zeigten Schwarz-Weiß-Fotos mit Gesichtern von Menschen, die von den Militärs getötet wurden. 3214 Personen wurden in der bis 1990 währenden Diktatur, die von General Augusto José Ramón Pinochet Ugarte geführt wurde, ermordet; von gut 1000 davon fehlt bis heute jede Spur.

Die Kundgebung war mit etwa 20.000 Teilnehmern sicher kein riesiger Marsch. Aber sie war fünfmal so groß wie der Gedenkzug vor einem Jahr. Lorena Pizarro, eine Organisatorin, freute sich: „Das ist ein wunderbarer Beweis dafür, dass dieses Land seine Geschichte doch nicht verschluckt hat, wie das lange behauptet worden ist!“

Chile, so scheint es, erlebt nun jene Zeitenwende, die Österreich und Deutschland am Beginn der 1970er-Jahre durchmachten. Wie einst in Wien und Berlin waren es die marschierenden Studenten, die Chile aufweckten. Seit die demokratischen Kräfte in einem Referendum 1988 das Ende des Pinochet-Regimes eingeläutet hatten, übte sich das Land, das damals zumindest wirtschaftlich schon an der Spitze Lateinamerikas lag, weiter in Wiederaufbau und wachsendem Wohlstandskonsens. 20 Jahre lang regierte ab 1990 ein Bündnis aus vier Parteien von Christdemokraten bis zu Sozialisten. Auch im konservativen Lager schlossen zwei Gruppierungen eine Allianz, die seit 2010 regiert, unter Führung des Milliardärs Sebastián Piñera (Pinochet starb im Jahr 2006).

Der gehört zu jenen illustren Figuren, die vor dem Jahrestag, und zwei Monate vor der Präsidentenwahl, die Verfehlungen von Staatsorganen unter der Diktatur kritisierten. Die Justiz habe „nicht ihre Pflicht erfüllt und hätte viel mehr tun können“, kommentierte er die Erkenntnis, dass die Richter nicht mehr als zehn von 5400 Klagen bearbeiteten, die Angehörige von während der Diktatur Verschwundenen einreichten. Dann meldete sich Chiles Richterverband mit einem denkwürdigen Kommuniqué: „Es ist an der Zeit, die Opfer, deren Verwandte und die chilenische Gesellschaft um Vergebung zu bitten dafür, dass wir in dieser entscheidenden Phase unserer Geschichte versagt haben.“

Serie von Entschuldigungen

Die Serie der mea culpas wurde eingeleitet von Spitzenpolitikern wie dem Sozialisten Camilo Escalona, der sich für linke Gewalt vor dem Militärputsch von 1973 entschuldigte, und dem konservativen Senator Hernán Larraín, der um Vergebung bat für Untaten während der Diktatur „und für das Unterlassen von all dem, was ich hätte tun sollen“. In seiner Partei, der rechten UDI, erntete deren langjähriger Führer allerdings nicht nur Zustimmung dafür.

Aber nicht nur in der Politik hat das „Reden wir nicht mehr darüber“ ein Ende. Eine TV-Sendung namens „Verbotene Bilder“, die jeden Mittwoch über Verschleppung, Folter und Tod unter den Militärs berichtet, hat in ihren Quoten die bisher unschlagbare Telenovela „Wieder Single“ überholt. Anfang August zeigte das Programm „El Informante“ den 42-jährigen Ernesto Lejderman, der im Alter von zwei Jahren einem Kloster übergeben wurde, nachdem die Eltern von Militärs erschossen worden waren. In das gleiche Programm lud man den für die Exekution verantwortlichen Offizier ein, der das Baby damals den Nonnen ausgehändigt hatte: Es war Juan Emilio Cheyre, nunmehr Präsident der nationalen Wahlbehörde. Er trat nach der Sendung zurück. Zumindest dieser Schatten der Vergangenheit verschwand.
(s. Gastkommentar Seite 27)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.09.2013)

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