Als in Chile der Neoliberalismus entfesselt wurde

Vor 40 Jahren, am 11. September 1973, putschte in dem südamerikanischen Staat General Pinochet gegen den marxistischen Präsidenten Salvador Allende. Danach öffneten die Generäle einem neuen Wirtschaftsmodell alle Schleusen.

Wenn vom 11. September gesprochen wird, assoziiert man damit den 11. September 2001, den Tag der terroristischen Anschläge auf die USA in New York und Washington. Der 11. September 1973 steht dagegen diskret im Hintergrund. Es ist dies der Tag des Militärputsches in Chile. Juntachef Augusto Pinochet putschte gegen den sozialistischen Staatspräsidenten Salvador Allende, der noch am gleichen Tag Selbstmord beging.

Zielrichtung des Militärputsches in Chile 1973 war unter anderem die Korrektur einer extrem sozialistischen Wirtschaftspolitik des damaligen Staatspräsidenten Allende. Die Rolle der USA bezüglich Vorbereitung dieses Putsches ist aufgrund inzwischen öffentlicher Dokumente noch nicht völlig klar. Es gibt aber deutliche Hinweise darauf, dass die USA ab 1970 den Sturz Allendes angestrebt hatten.

Marxistische Wirtschaftspolitik

Immer wieder werden die Interessen von US-Konzernen, des Auslandsnachrichtendienstes CIA und des damaligen Außenministers Henry Kissinger genannt, die Pinochets Putsch alle begrüßt hatten.

Auffällig war Allendes Wirtschaftspolitik, die eine entschädigungslose Verstaatlichung der Bodenschätze, die Enteignung ausländischer Großunternehmen und eine Agrarreform brachte, womit amerikanische Wirtschaftsinteressen empfindlich gestört wurden. Staatliche Preisfestsetzungen komplettierten das pointiert marxistische Wirtschaftsprogramm Allendes, das in Versorgungsengpässe und eine Inflation von bis zu 600 Prozent mündete.

Der 11. September 1973 ist ein wichtiges Datum für die Etablierung neoliberaler Wirtschaftsmodelle. Diese sollten die Modelle der sozialen Marktwirtschaft oder des „embedded liberalism“ ablösen – zugunsten eines Systems einer total deregulierten Marktwirtschaft, die nicht nur die Realwirtschaft, sondern auch Systeme der Finanzwirtschaft völlig neu gestaltet.

Der freie Markt sollte zum Selbstzweck werden. Er erforderte die Ökonomisierung aller Lebensbereiche bis hin zur kapitalmarktgedeckten Daseinsvorsorge und Infrastrukturversorgung. Das alleinige Heil wurde im Spiel von Angebot und Nachfrage gesehen. Kategorien des Gemeinwohls suchte man vergebens, wie überhaupt die Welt des Politischen mit dem Staatsbürger als zentralem Bezugspunkt abgelöst werden sollte, um ökonomistische Interaktionsmodelle, in denen Menschen im Rahmen der Marktprozesse nur noch die Funktion eines frei manövrierbaren Produktionsfaktors, eines Marktteilnehmers – und speziell des Konsumenten zukommt.

„Chicago-Boys“ als Einflüsterer

Was den 11. September 1973 – fernab des Ereignisses mit all dem menschlichen Leid eines Putsches – zu einem historischen Datum macht, ist die wirtschaftspolitische Unterfütterung dieses Regimewechsels, der von starken Kräften neoliberaler Kreise in den USA beeinflusst wurde. Es waren Wirtschaftsberater aus der Schule des Monetaristen Milton Friedman, die „Chicago-Boys“, die in Chile einen Staat neuen Stils nach neoliberalem Format empfohlen haben.

In den ökonomischen Ausbildungsstätten Chiles hatte es eine stolze Tradition von um die Bedürfnisse der Menschen bemühten Experten gegeben, die im katholischen Einflussbereich standen. Sie verloren jedoch an Bedeutung zugunsten amerikanischer Einflüsterer.

Die an die Macht gekommene Militärjunta setzte auf eine umfassende Deregulierung des Arbeitsmarktes und eine Ökonomisierung vieler Lebensbereiche. So wurden nicht nur die Verstaatlichungen Allendes mit Ausnahme jener der Kupferbergwerke rückgängig gemacht, sondern auch öffentlicher Besitz wie Wälder und Fischbestände privatisiert. Es war die Absicht der neoliberalen Wirtschaftsstrategen, durch Forcierung des Exportes privater Unternehmen das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.

In Chile wurde damit experimentiert, wie durch erzwungene Privatisierungen Kapitalakkumulationen generiert werden können, die zur Umverteilung von unten nach oben führten und die Eliten und ausländische Investoren einseitig bevorzugten. Diese neoliberalen Parameter erfuhren dann später in den Modellen der Reaganomics in den USA, des Thatcherismus in Großbritannien, aber auch in der Liberalisierung der kommunistisch organisierten Volkswirtschaft Chinas ab 1978 durch Deng Xiaoping eine Fortführung und Weiterentwicklung.

Von unten nach oben

Wer immer auch ein Interesse an einer neuen Umverteilung von unten nach oben hatte, die neoliberale Neuformatierung der Gesellschaften begünstigte dies. Die Wirtschaftsstatistik spricht eine deutliche Sprache. So steigerte in den USA das einkommensstärkste Promille der Bevölkerung seinen Anteil am gesamten Volkseinkommen von zwei Prozent im Jahr 1978 auf sechs Prozent im Jahr 1999. Die Spannungsbreite der Einkommen (Medianeinkommen von Lohnarbeitern zu Unternehmensbossen) stieg im gleichen Zeitraum um das mehr als Zehnfache.

Ähnlich verlief die Entwicklung in Großbritannien. Dort verdoppelte das oberste Einkommensprozent das Einkommen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von 6,5 auf 13 Prozent. Aber auch Russland und China erlebten eine extreme Auseinanderentwicklung der Einkommen, wobei sich in Russland im Zuge einer neoliberalen Wirtschaftsrevolution eine Oligarchie herausbildete.

Evaluation der Modelle

Die Aufarbeitung der jetzigen Wirtschafts- und Finanzkrise verlangt nach einer gründlichen und vorurteilsfreien Evaluation von Gesellschafts- und Wirtschaftsmodellen. Europa kann auf prosperierende Jahrzehnte zurückblicken, sowohl, was die europäische Integration anbelangt, als auch die wirtschaftliche Entwicklung in den einzelnen Staaten.

Von Mitte der 1950er-Jahre bis Mitte der 1990er-Jahre erlebte Europa goldene Jahre der Integration. Im deutschsprachigen Raum sind wir mit dem Wirtschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft gut gefahren. Liberaler Rechtsstaat und um das Gemeinwohl bemühter ordnungspolitischer Rahmen sollten die kreativen Kräfte der Marktwirtschaft wachküssen und die Menschen am wirtschaftlichen Fortschritt beteiligen.

Seit Mitte der 1990er-Jahre stottert die institutionelle und ökonomische Entwicklung. Sind es die Auswüchse eines außer Rand und Band geratenen Neoliberalismus, insbesondere in der Finanzwirtschaft, die Schockwellen durch unser Wirtschaftsleben jagen?

Europa mit seiner großen Tradition, als Wiege von Liberalismus ebenso wie von Marxismus, müsste doch fähig sein, neue funktionierende Modelle des Gemeinwesens zu entwickeln. Die „schöpferische Zerstörung“ Schumpeters sollte nicht mit der Zerstörung der Schöpfung verwechselt werden.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.09.2013)

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