Der „Stinkefinger“ des SPD-Kanzlerkandidaten entzweit die Wähler. Die sozialen Foren quellen über vor Kommentaren und Postings.
Wien/Berlin. In der Hitze des Gefechts verlor der Hanseate, zumeist als kühl verschrien, seinen Kopf. Im Match gegen Südkorea nahm der deutsche Teamchef Berti Vogts bei der Fußball-WM 1994 in den USA seinen Mittelfeldstar Stefan Effenberg vorzeitig vom Feld. Als auf Letzteren ein Pfeifkonzert niederging, reckte er den Mittelfinger – und blieb auf Jahre hinaus aus dem Nationalteam verbannt.
Bis zum Donnerstagabend, als das Coverfoto des „Süddeutschen“-Magazins zu zirkulieren begann, war dies der berühmteste „Stinkefinger“ des Landes – bis der Hanseate Peer Steinbrück „Bösewicht“ Effenberg ablöste. Die Gretchenfrage, die sich eine Woche vor der Bundestagswahl stellt, ist nun, ob die Wähler dem SPD-Kanzlerkandidaten die Rote Karte zeigen – und, ganz nebenbei, wie viel Humor und Ironie die Nation inzwischen verträgt. FDP-Chef und Vizekanzler Philipp Rösler schäumt: „Die Geste verbietet sich als Kanzlerkandidat.“
Die sozialen Foren quellen über vor Kommentaren und Postings, der dahinplätschernde Wahlkampf entzündet sich zu einem Zeitpunkt an der Kontroverse, da die SPD und ihr Spitzenmann nach einer Fauxpas-Serie endlich Aufwind verspüren. Die Sozialdemokraten notieren in der jüngsten Hochrechnung der ARD beim heurigen „Rekordwert“ von 28 Prozent, und die Partei denkt daran, sich in eine große Koalition zu retten.
„Da standen mir die Haare zu Berge“, so urteilte Ex-Parteichef Franz Müntefering über den Wahlkampf-Fehlstart. Ex-Finanzminister Steinbrück ließ ja wahrlich keinen Fettnapf aus – von den Redehonoraren über die Kanzlergage und den Wert einer Flasche Pinot Grigio bis hin zum „Clown“-Diktum über Berlusconi und Grillo und zur Absage eines Berlin-Termins des italienischen Präsidenten Napolitano.
Nach dem TV-Duell galt Steinbrück aber plötzlich als „coole Sau“ und „King of Kotelett“, jetzt rücken ihn seine Parteifreunde in die Nähe der Country-Ikone Johnny Cash – als Hommage zu dessen zehntem Todestag. Aufgepumpt mit Testosteron, leger ohne Krawatte, war er vor Wochen zum Fotoshooting unter dem Motto „Jetzt sagen Sie nichts“ erschienen: einem Interview ohne Worte. Konfrontiert mit der Aufzählung „Pannen-Peer, Problem-Peer, Peerlusconi“, reagierte Steinbrück gewohnt sarkastisch mit der Machogeste, die sich von der Antike bis zum Autoverkehr zieht. Sein Pressesprecher, ein Ex-„Bild“-Redakteur, wollte das Foto reklamieren. Aber Steinbrück bestand darauf, schließlich lautet seine Devise ja „Klartext“ und „klare Kante“.
Angela Merkel ziert derweil die Cover der Magazine „Time“ und „Economist“. Auf Letzterem prangt sie als Säulenheilige, während ringsum Europa versinkt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2013)