Globale Daten brauchen regionale Detaillierung.
Anno 2010/2011 gingen Klimaforschern die Augen über: Die Meeresspiegel stiegen nicht – um die gewohnten 3,2 Millimeter pro Jahr –, im Gegenteil, sie sanken, um sieben Millimeter. Das lag nicht daran, dass die Erwärmung seit 1998 stillsteht – es ist warm genug, um Gletscher und Poleis auszudünnen –, es hatte ganz andere Gründe, das Klimaphänomen El Niño und die Topografie Australiens.
Über diesen Erdteil hat El Niño viel Regen gebracht, und Australien ist anders als andere Kontinente: Bei denen gehen 30 bis 40 Prozent der Niederschläge über Flüsse direkt in die Meere, in Australien nur sechs Prozent, viele Flüsse tragen ihre Fracht ins Landesinnere und füllen riesige Wannen. „Das Ganze ist eine hübsche Illustration dafür, wie kompliziert unser Klimasystem ist“, kommentiert John Fasullo (US National Center for Climatic Research), der den Zusammenhang bemerkt hat.
Aber das ist nicht die einzige Tücke bei Meeresspiegeln. Zum einen sind sie schwer zu messen – man misst vom Land, aber Küsten können sich heben oder senken, und man misst mit Satelliten, aber die müssen auf dem Land kalibriert werden –, und zum anderen spielt viel hinein, vom Input wie von der Verteilung: Die 3,2 Millimeter pro Jahr gehen etwa zur Hälfte auf das Konto der Erwärmung, zur anderen Hälfte ist dieses Wasser Grundwasser, das für die Landwirtschaft aus den Tiefen herauf geholt wurde. Und von der Verteilung her laufen die Meere nicht einfach voll wie eine Badewanne, sondern regional höchst verschieden: In der Hudson Bay sinkt das Meer, weil sich die Küste um einen Zentimeter pro Jahr hebt, als Spätfolge der Eiszeit, die mit kilometerdicken Lasten auf das Land gedrückt hat. Im Delta des Gelben Flusses hingegen steigt das Wasser um 25 Zentimeter im Jahr, nein, nicht der Boden sinkt, zu viel Grundwasser wurde entnommen.
Auch die Gravitation spielt mit, und wie: Würden die Gletscher Grönlands so stark schmelzen, dass die Meere global um einen Meter steigen, würde der Meeresspiegel direkt bei Grönland um 2,5 Meter fallen – wegen der geringeren Gravitation –, weit entfernt hingegen um 1,30 Meter steigen. All das braucht regionale Prognosen, der New York City Panel of Climate Change hat eine erstellt und kommt für die Stadt auf 30 bis 60 Zentimeter im Jahr 2050. (jl)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.09.2013)