Die nukleare Wende, die keine war

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Nach dem Unfall von Tschernobyl galt die Atomkraft für viele endgültig als gescheiterte Technik. Doch während in Europa immer mehr Länder aussteigen, wächst das Interesse an AKW in Asien. Welche Risken nehmen diese Länder dabei auf sich? Wie sieht es heute in Tschernobyl aus? Ein Lokalaugenschein.

Normal. Unerwartet normal. Dieses Wort beschreibt am besten die Situation. Ein paar Bauarbeiter spazieren gemütlich tratschend aus der Kantine des Werks zurück an ihren Arbeitsplatz auf der Baustelle. Andere warten nach getaner Arbeit mit Zigaretten in der Hand an der lokalen Bushaltestelle auf den Transferbus, der sie nach Hause bringen wird. Im Hintergrund sind zahlreiche Kräne zu sehen, die gerade neue Teile für das Dach der riesigen kreisbogenförmigen Halle an ihren richtigen Platz befördern. Es könnte sich um irgendeine Baustelle irgendwo auf der Welt handeln, stünde da nicht nur 200 Meter entfernt Ukruitije – der Einschluss.

Es ist der mehr als 60 Meter hohe Sarkophag aus Stahlbeton, der vor 27Jahren in nur wenigen Monaten über dem Block vier des Atomkraftwerkes Tschernobyl hochgezogen wurde. Über jenem Reaktor, der in der Nacht vom 25. auf den 26.April 1986 explodierte und seither die größte zivile Atomkatastrophe der Geschichte darstellt. Doch der alte Sarkophag ist brüchig geworden, ein Teil des Daches bereits eingestürzt. Daher wird nun an einer neuen Schutzhülle gebaut, die ab 2015 über den alten Sarkophag gestülpt werden soll.


Synonym für Gefahr. Der Name Tschernobyl wurde durch den Unfall im Jahr 1986 zu einem Begriff, der auch heute noch weltweit für die Gefahren der Atomkraft steht. Die eben erst gegründeten europäischen Grün-Bewegungen erhielten durch Tschernobyl Rückenwind in ihrem Kampf gegen die Nuklearindustrie. Einem Kampf, der in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz bereits zum geplanten Ausstieg aus der Atomkraft führte. Aber auch weltweit war Tschernobyl in der Ansicht vieler Menschen jener Wendepunkt, der Atomkraft endgültig zu einer unsicheren Technologie machte, von der man sich verabschieden sollte.

Für lange Jahre sollte diese Interpretation auch stimmen. So fiel die Zahl der geplanten oder in Bau befindlichen Atomkraftwerke von ihrem Höchststand von fast 190 im Jahr 1980 bis zur Mitte der 1990er-Jahre auf gerade einmal 25, wie aus dem „World Nuclear Industry Status Report 2013“ hervorgeht. Auf diesem Niveau verharrte sie auch bis zur Mitte des vergangenen Jahrzehnts. Doch seither steigt die Zahl der neuen Projekte wieder rasant an. Zur Zeit befinden sich 66Atomkraftwerke entweder in der Planungs- oder bereits in der Bauphase. Tendenz steigend.

Anders als während des großen Atombooms der 1970er- und 1980er-Jahre sind es aber nicht westliche Länder wie die USA und Frankreich oder die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die den Ausbau vorantreiben. Die neuen Treiber der Atomkraft kommen vor allem aus Asien, viele steigen überhaupt erst komplett neu in diese Technologie ein.

Das mit Abstand größte Ausbauprogramm fährt zur Zeit China, wo in den nächsten vier Jahren 28 neue Reaktoren ans Netz gehen sollen. Das energiehungrige Riesenreich will so seine Abhängigkeit von Kohle reduzieren, die den chinesischen CO2-Ausstoß nach oben treibt und für schlechte Luftqualität sorgt. Aber auch Indien, Südkorea, Pakistan oder die Vereinigten Arabischen Emirate arbeiten an neuen Kernkraftwerken. Sicherheitsbedenken spielen im öffentlichen Diskurs dieser Länder kaum eine Rolle. Daran tat auch der Unfall im japanischen AKW Fukushima keinen Abbruch, durch den die Erinnerung an Tschernobyl vielfach wieder wacher wurde.

Sperrzone. In Tschernobyl sind die Folgen der einstigen Katastrophe immer noch deutlich zu spüren. So umgibt das 130 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew gelegene ehemalige Kernkraftwerk auch heute noch eine Sperrzone mit einem Radius von 30 Kilometern. In dieser Sperrzone leben auch 27 Jahre nach dem Unfall keine dauerhaften Einwohner – abgesehen von rund 200 meist alten Rückkehrern, die verbotenerweise wieder in ihre alten Häuser gezogen sind. Und auch heute noch wird das Gebiet landwirtschaftlich nicht genutzt, sondern weitgehend sich selbst überlassen.

Dennoch arbeiten rund 7000 Menschen innerhalb dieser Sperrzone. Rund die Hälfte davon ist in dem AKW beschäftigt, das bis zum Jahr 2000 sogar noch Strom produzierte. Sie arbeiten entweder an der Baustelle des neuen Sarkophages oder kümmern sich um die Überwachung von Reaktorblock vier, der unter dem Sarkophag immer noch unkontrolliert vor sich hin glüht. Die andere Hälfte ist bei jener staatlichen Firma beschäftigt, die sich um die Sperrzone kümmert. Sie bewachen die Einfahrt und halten die weiterhin genutzte Infrastruktur wie Straßen, Stromleitungen oder Bahntrassen intakt. Und seit 2003 führen sie auch Besucher in die Zone. Denn inzwischen ist Tschernobyl nicht nur ein Synonym für die Gefahren der Atomkraft. Es ist auch eine Touristenattraktion.

„Vergangenes Jahr kamen dank der Fußball-EM bereits 18.000 Touristen“, sagt Tourguide Igor. Der 44-Jährige arbeitet eigentlich als Assistent in einer der vielen wissenschaftlichen Einrichtungen, die innerhalb der Sperrzone die Auswirkungen von radioaktiver Strahlung untersuchen. Nebenher führt er aber auch Besucher durch die Zone. In der Regel beginnt eine solche Tour im Städtchen Tschernobyl, rund 30 Kilometer vom Kraftwerk entfernt. Der Ort wurde im Mittelalter gegründet und hatte einst 14.000 Einwohner. Heute sind nur ein paar der Wohnblocks von Arbeitern wie Igor temporär bewohnt, der Rest steht leer. Entlang der Straße finden sich immer wieder Denkmäler, die an die Ereignisse von vor 27 Jahren erinnern. Manche mit privatem Geld von der lokalen Bevölkerung errichtet, weil die Sowjetunion und später die Ukraine sich in den ersten Jahren nach dem Unfall nicht sonderlich für die Erinnerung daran interessierten.

Was Tschernobyl wirklich bedeutete, wird jedoch erst ein paar Kilometer weiter klar. Am Rande der Straße steht der Kindergarten eines Dorfes, inzwischen versteckt zwischen hohen Bäumen, die auf dem ehemaligen Spielplatz wachsen. Drinnen sitzen auf einer Fensterbank noch zwei Teddybären. Im Schlafsaal liegen Pyjamas auf dem Boden verstreut, die in der Hast der Evakuierung achtlos liegen gelassen wurden. Eine Bastelarbeit über die Mediziner der Sowjetunion erinnert daran, wie viel Zeit seit dem letzten Spiel von Kindern in den Räumen vergangen ist.

Ein paar Kilometer weiter taucht auf der rechten Seite der Straße plötzlich ein halb fertiges Reaktorgebäude auf, fünf Kräne stehen still daneben. „Das sind die Blöcke fünf und sechs. Sie wurden nie fertig gebaut“, sagt Igor. Und während die Besucher noch von der immerwährenden Baustelle fasziniert sind, hat der Bus bereits das Zentrum des Kraftwerksgeländes erreicht. Und da steht er nun: Block vier. Verhüllt vom Sarkophag. Es ist ein Bild, das schon oft in Fernsehdokumentationen oder Zeitungen zu sehen war. Dennoch ist es ein eigenartiges Gefühl, nur 300Meter von der Stelle entfernt zu stehen, wo jener Unfall geschah, der einst Millionen Europäer in Angst versetzte.

Strahlung. Der erste Blick nach dem Verlassen des Busses fällt auf den Geigerzähler: 3,1 Mikrosievert pro Stunde. Das Zehnfache des normalen Wertes in Österreich. Aber dennoch weit von einem Niveau entfernt, das – zumindest kurzfristig – für die Gesundheit gefährlich wäre. Zum Vergleich: Bei einem Flug von Frankfurt nach New York nimmt der Körper bis zu 75 Mikrosievert auf. Man müsste also 24 Stunden an dieser Stelle stehen, um genauso viel Radioaktivität aufzunehmen. Es gibt aber immer noch Gegenden, vor allem in den Wäldern, wo Menschen bereits nach rund zwei Stunden die in Österreich pro Jahr erlaubte Maximaldosis für strahlenexponierte Berufe aufnehmen.

Kurz nach dem Reaktorunfall war die Strahlung im näheren Umfeld des Kraftwerkes überhaupt so hoch, dass mitunter schon nach Stunden die tödliche Strahlenkrankheit ausgebrochen ist. In den Monaten danach wurde die Gegend rund um das Kraftwerk jedoch mehrmals dekontaminiert. „Im näheren Umfeld wurden sogar die obersten fünf Zentimeter des Bodens abgehoben und weggebracht“, sagt Igor. Eine Arbeit, die tausende sogenannte Liquidatoren – meist Soldaten oder Feuerwehrmänner – mit dem Leben bezahlen mussten. Offiziell starben langfristig 4000 Menschen. Diese Zahl ist jedoch heftig umstritten.

Aber auch wirtschaftlich brachte der Unfall riesige Schäden. So bezifferte der damalige Staatspräsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, allein die Kosten der Unfallbekämpfung später mit 18 Milliarden Rubel – zu einer Zeit, als der Rubel noch etwa ein Verhältnis von 1:1 mit dem US-Dollar hatte. Und auch heute noch können rund 800.000 Hektar Land weder für die Forst- noch die Landwirtschaft genutzt werden. Hinzu kommen die Kosten für den neuen Sarkophag von mindestens 1,2 Milliarden Euro, der großteils von der EU finanziert werden muss. Dies seien die versteckten Kosten, die aus der „billigen Atomkraft“ im Fall einer Katastrophe eine sehr teure Form der Energieversorgung machen, so Kritiker.

Dabei hatte man in mancher Hinsicht beim Unfall von Tschernobyl noch Glück im Unglück, da es sich um ein nur dünn besiedeltes Gebiet handelte. Die einzig größere Stadt ist das drei Kilometer entfernte Pripjat, eine erst 1970 gegründete Stadt für die Arbeiter des Kernkraftwerkes, in der 1986 noch 43.000 Menschen wohnten. Heute gleicht Pripjat einer Geisterstadt. Bei der Einfahrt wähnen sich Besucher noch in einem Wald, bis sie realisieren, dass hinter den haushohen und dicht stehenden Bäumen die Fassaden der Gebäude versteckt sind.


Wahrzeichen.
Am Hauptplatz von Pripjat erinnern die Schilder auf den Häusern an die einst ruhmreicheren Zeiten des Hotels Polissja oder des Restaurants Energetik. Heute starren hohle Fensterhöhlen auf den stillen Platz, dessen Betondecke bereits von Birken oder Pinien gesprengt wurde. Wenige Meter daneben steht sozusagen das Wahrzeichen der Stadt: ein Riesenrad, das für die Feiern zum 1.Mai des Jahres 1986 aufgebaut wurde. Es war nie in Betrieb.

Für Tourguide Igor gehört der traurige Anblick zum Alltag. Er arbeitet seit 20 Jahren in der Sperrzone. Doch was denkt jemand, der jeden Tag die negativen Folgen sieht, die Atomkraft mit sich bringen kann, über diese Form der Energieerzeugung? „Ich glaube, dass die Ukraine auch künftig nicht auf AKW verzichten kann. Sie sollten aber so sicher wie möglich sein.“

Wie Gefährlich ist Strahlung?

Radioaktive Strahlung entsteht nicht nur durch menschliche Aktivitäten wie AKW. Es gibt auch natürliche Strahlung der Erde sowie kosmische Strahlung, die aus dem All in die Atmosphäre dringt. In Österreich beträgt die natürliche Strahlung 2,9 Millisievert pro Jahr, dies entspricht etwa 0,33 Mikrosievert pro Stunde. Zusätzlich nehmen Österreicher pro Jahr 1,4 Millisievert durch künstliche Anwendungen, etwa Röntgen, auf.
In der Sperrzone von Tschernobyl
schwankt die Strahlenbelastung zwischen 1,5 Mikrosievert und zehn Millisievert pro Stunde. Ab der Aufnahme von 150 Millisievert (in kurzem Zeitraum) kann es zu Strahlenschäden kommen. Diese reichen je nach Dosis von erhöhtem Krebsrisiko bis zum Tod innerhalb weniger Tage (ab mehr als zwei Sievert).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.09.2013)

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