Bootsunglück: "Flüchtlingstragödie ist kein Unfall"

A still image taken from video released by the Italian Coastguard shows migrants rescued from the water off the southern Italian island of Lampedusa
A still image taken from video released by the Italian Coastguard shows migrants rescued from the water off the southern Italian island of LampedusaREUTERS
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Während auf Lampedusa die Bergeaktion der vermissten Flüchtlinge eingestellt wurde, tobt in Rom ein bitterer Streit über den Umgang mit Migrationsströmen aus Afrika.

Wien/Lampedusa. Frühmorgens wurde Vito Fiorino an Bord seines Segelboots von verzweifelten Hilferufen geweckt. „Anfangs dachten wir, es seien Möwenschreie“, erzählt der Bewohner der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa. „Im stillen Meer sahen wird dann winkende Arme und hörten die Hilferufe.“ Der Cafébesitzer verbrachte die Nacht auf Donnerstag, als vor Lampedusa ein Boot mit afrikanischen Flüchtlingen unterging und vermutlich bis zu 300 Menschen ertranken, auf seinem Segelschiff. Gemeinsam mit Freunden konnte der Italiener 47 Überlebende retten. „Es war extrem schwierig, sie in unser Boot zu hieven. Wir mussten kontrollieren, wer tot war, um nur noch die Lebenden ins Boot zu ziehen und zu retten“, erzählt er italienischen Medien. Die Überlebenden sollen in Rom untergebracht werden, sagte der Bürgermeister der Hauptstadt, Ignazio Marino bei der Gedenkwache vor dem Rathaus in Rom.

111 Leichen konnten bis Freitagnachmittag geborgen werden. Weitere Tote werden noch im Wrack vermutet, das nur wenige Kilometer vor der Küste Lampedusas auf dem Meeresgrund liegt. „Viele konnten sich vermutlich aus dem überfüllten unteren Deck des Boots nicht mehr retten“, sagt Melissa Fleming, Sprecherin des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR). Wegen rauer See mussten die Tauchermannschaften ihre Suche am Freitag zu Mittag vorübergehend einstellen.

Insgesamt konnten 155 Menschen in Sicherheit gebracht werden – bis auf einen Tunesier handelt es sich ausschließlich um Eritreer. Unter ihnen befinden sich 40 Burschen zwischen 14 und 17 Jahren sowie sechs Frauen, der Rest sind erwachsene Männer. „Alle sind sehr erschöpft und stehen unter Schock“, sagt Fleming. Die Überlebenden werden derzeit im ohnehin überfüllten Auffanglager auf Lampedusa behandelt, vier Migranten in besonders kritischem Zustand wurden in ein Krankenhaus nach Palermo geflogen.

„Boote zurückschicken“

Während am Tag nach der Flüchtlingstragödie auf Lampedusa Touristenlokale und -läden aus Trauer geschlossen blieben, ist in Rom eine bittere Polemik zum Thema Einwanderungspolitik entbrannt. Alle Parteien sind sich einig, dass Rom von Brüssel allein gelassen werde, und fordern mehr Hilfe von allen EU-Staaten, um mit den Migrationsströmen fertigzuwerden. Die ausländerfeindliche Oppositionspartei Lega Nord nimmt indes Italiens Integrationsministerin ins Visier. Die aus dem Kongo stammende Politikerin habe mit ihrem Ruf nach einer besseren Integration an potenzielle Migranten „gefährliche Signale gesendet“.

Die Forderung der Lega Nord, Flüchtlingsboote einfach zurückzuschicken, weil sie „voller Illegaler“ seien, wies Lampedusas Bürgermeisterin, Giusi Nicolini, zurück. Die Flüchtlingstragödie sei kein Unfall, sondern „das Resultat einer Migrationswelle, die seit 15Jahren nicht nachlässt“. In den vergangenen zwei Monaten sind allein auf dem östlichen Teil Siziliens sowie auf Lampedusa etwa 16.000 Menschen per Boot angekommen.

Italien versucht nun, den Druck auf die EU zu erhöhen: Rom brauche bei der Bekämpfung der Migrationsströme mehr Hilfe aus Europa, heißt es aus der Partei von Ministerpräsident Enrico Letta. Weiters verlangt der Premier die Einrichtung sicherer Korridore für Flüchtlingsboote, um Leben zu retten. Beim Treffen der EU-Innen- und Justizminister kommende Woche soll dieses Thema auch behandelt werden.

13 Tage auf hoher See

Aus Erzählung der Überlebenden lassen sich nun auch Puzzleteile zur Rekonstruktion des Unfallhergangs zusammensetzen: Die rund 500 Flüchtlinge legten in der libyschen Hafenstadt Misrata ab und befanden sich 13 Tage auf hoher See. In der Nacht auf Donnerstag, als sie sich bereits Italiens Küste näherten, fiel der Motor aus. Die Passagiere wollten sich dann durch das Entzünden einer Decke und Bekleidung auf dem oberen Deck des Schiffs bemerkbar machen. Ein Fischerboot sei vorbeigefahren, allerdings ohne zu helfen, berichtet das UNHCR. Ein Touristenboot alarmierte schließlich die Küstenwache. (ag./zoe)

HINTERGRUND

Lampedusa, eine rund 20 Quadratkilometer große Insel, ist nur ca. 300 Kilometer von Libyens Küste entfernt, nach Tunesien sind es 150 Kilometer. Seit Jahresbeginn haben mehr als 30.000Flüchtlinge in Libyen abgelegt und Italien erreicht. Zahlen darüber, wie viele Migranten im Mittelmeer ums Leben kommen, gibt es keine. Die Überfahrt, meist von gut mit der sizilianischen Mafia vernetzten Schleppern organisiert, dauert rund zwei Wochen. Kosten: ca. 1500 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2013)

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