Flüchtlinge: "Geradeaus geht es nach Europa"

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Flucht(c) EPA (ETTORE FERRARI)
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Viele syrische Flüchtlinge versuchen, von Ägypten über das Mittelmeer zu fliehen. Um einen sicheren Platz in Europa zu finden, riskieren sie Leib und Leben.

Hast ein Pfund für einen Platz auf einem Boot nach Italien?“, fragt ein alter einäugiger Mann, mit Gehstock, Turban und Rauschebart. Er grinst ins Autofenster. Im heruntergekommenen ägyptischen Küstenort Abukir, westlich des Mittelmeerhafens von Alexandria, haben selbst die Bettler ein genaues Ziel vor Augen, und das liegt hinter dem Meereshorizont. Dort, wo die Europäer an den Stränden in der Sonne baden, liegt die Hoffnung, oder sie stirbt auf dem Weg dorthin.

War Abukir einst der Ort, an dem der britische Lord Nelson mit seiner Royal Navy die Flotte Napoleons versenkte, ist es heute der Ausgangspunkt vor allem für syrische Flüchtlinge, die gefährliche Überfahrt nach Europa anzutreten. Bis zu 4000 Dollar zahlen die Syrer für einen Platz auf einem der Boote, erzählt Abou, der am Strand einen kleinen Kiosk betreibt. Meist stechen die Boote nachts in See, vollbeladen mit über 200 Menschen, ein paar kleinere Boote im Schlepptau. Auf diese werden die Flüchtlinge kurz vor Italien umgeladen, und dann heißt es nur noch „Immer geradeaus geht es nach Europa“. „Wer ersäuft, der ersäuft eben, wer ankommt, kommt an, und wer festgenommen wird, der wird halt festgenommen. Die Schlepper gewinnen immer“, fasst Abou das Geschäftsmodell zusammen. Denn die Boote sind nur einen Bruchteil dessen wert, was die daraufgepferchten Syrer bezahlt haben. Manchmal setzen sie die Menschen auch auf ein paar kleinen ägyptischen Inseln in der Nähe ab, wo sie dann von der Küstenwache verhaftet werden.

Schüsse auf Flüchtlinge. Auch am 17.September stach ein solches Boot mit 240 Flüchtlingen in See. Sie kamen nicht weit und wurden von der ägyptischen Küstenwache aufgebracht. Die forderte das Boot zum Anhalten auf; die Schlepper fuhren trotzdem weiter, wohl aus Angst. Die Küstenwache feuerte auf das Boot. Zwei der Flüchtlinge an Bord wurden erschossen, einer schwer verletzt, bevor das Schiff doch anhielt und die menschliche Fracht zurück an Land gebracht wurde. Ägypten ist wohl das einzige Land der Welt, das auf Flüchtlinge schießt, die versuchen das Land zu verlassen. „Dabei macht Ägypten die Drecksarbeit für die europäischen Staaten, die vom Land am Nil gefordert haben, die Flüchtlingswellen übers Meer zu stoppen“, erklärt der ägyptische Menschenrechtsanwalt Ahmad Nassar aus Alexandria. In den vergangenen beiden Monaten, seit die Küstenwache härter vorgeht, wurden fast 1000 Flüchtlinge festgenommen.

Schock und Panik. Ein Teil jener, die die Schicksalsfahrt vom 17. September überlebt haben, befindet sich in der kleinen Polizeistation in Abukir. Gut hundert Flüchtlinge, darunter 40 Kinder, werden dort festgehalten. Nach längerem Verhandeln öffnet ein Polizeioffizier schließlich das Vorhängeschloss, mit dem das Tor zugesperrt ist. „Das könnte Ärger für mich geben, aber diese Menschen brauchen Hilfe. Bitte schreib über sie, damit die Europäer verstehen, was hier los ist“, sagt er. In der Wache herrscht eher die Atmosphäre eines Flüchtlingslagers als einer Polizeistation. Wäsche ist zum Trocknen aufgehängt. Eines der Zimmer dient den Frauen und Kindern als Unterkunft, ein anderes den Männern.

Muntazir ist so etwas wie der Sprecher der Gruppe. Er erzählt noch einmal, wie sie von der Küstenwache aufgebracht wurden. Als Beweis zeigt er ein Video auf einem Handy. Dort ist auch jener Moment festgehalten, nachdem geschossen worden ist. In den Augen der Flüchtlinge an Bord sind Schock und Panik sichtbar. Und immer wieder schwenkt das Handy auf die beiden Leichen, einen jungen Mann und eine Frau. Auch Fotos haben sie gemacht. Eines zeigt die beiden Toten, auf die sie Eisblöcke gelegt haben, um sie vor der Verwesung in der Hitze zu schützen. „Wir wussten, dass die Überfahrt gefährlich ist, aber bei uns in Syrien war es noch gefährlicher“, fasst Muntazir sein Dilemma zusammen.

Der 35-Jährige ist allein hier. Seine Frau und seiner Tochter sind noch in Damaskus, auch wenn ihr dortiges Haus im Palästinenserviertel Yarmuk inzwischen zerstört ist. „Meine zwölfjährige Tochter hat aus Angst vor den fast täglichen Bombardements inzwischen wieder begonnen, ins Bett zu machen. Da wusste ich, wir müssen hier weg“, erzählt er. Weil er nicht genug Geld für die Überfahrt für die gesamte Familie hatte, sollte er es als Erstes wagen und dann versuchen, seine Familie nachzuholen.

Wie, wenn nicht illegal? Die Überfahrt übers Meer vom Libanon kostet das Doppelte, also ist er nach Ägypten gekommen. „Ich danke Gott, dass meine Familie bei dieser Fahrt nicht dabei war“, sagt er heute im Rückblick. „Man gibt uns in Europa nur einen Flüchtlingsstatus, wenn wir es schaffen, dort anzukommen. Wie aber sollen wir ankommen, wenn nicht illegal hier übers Meer?“, fragt er und fügt hinzu: „Der Mensch braucht irgendeine Hoffnung. Wir müssen unser Leben riskieren, um einen sichereren Platz zum Leben finden.“ Muntazir ist OP-Helfer in der Chirurgie, mit jahrelanger Erfahrung. Eigentlich ein Job, der in Europa gesucht wird, sagt er.

Alaa, ein anderer Flüchtling, der mit seiner Frau und seinen drei Kindern auf der Wache ist, erzählt, dass er wenige Tage vor der Reise mit seiner Familie noch bei der österreichischen Botschaft in Kairo war. Er wollte seinen Fall präsentieren, in der Hoffnung, aufgenommen zu werden. Sie kamen noch nicht einmal am Sicherheitsbeamten vor der Tür vorbei. „An diesem Tag haben wir beschlossen, es illegal übers Meer zu versuchen. Was blieb uns sonst übrig?“ Unterbrochen wird er von einer Frau, die ihr Handy mit einem Foto vor sich hält. Zu sehen ist eine Ruine. „Das ist unser Haus. Sollen wir dorthin zurückgehen?“, fragt sie.

Druck auf Ägypten aus Europa. „Die Europäer geben den syrischen Flüchtlingen kaum eine Möglichkeit, auf legale Weise zu kommen. Gerade Italien und Deutschland üben Druck auf Ägypten aus, die Boote zu stoppen“, erläutert der Menschenrechtsanwalt Nassar. „Die Lösung wäre, mehr Flüchtlinge offiziell in Europa aufzunehmen und auch den Nachbarländern Syriens bei deren Aufnahme zu helfen“, glaubt der Aktivist. „Diese syrischen Flüchtlinge sind Menschen, die wie Tiere behandelt werden.“

Den Menschen auf der Polizeistation in Abukir werden die Ägypter die Ausreise anbieten, ohne Deportationsstempel im Pass, in ein Land ihrer Wahl. Die einzigen beiden Länder, die dafür infrage kommen, wären das Bürgerkriegsland Syrien oder der Libanon. Letzterer ist von den Flüchtlingen vollkommen überwältigt. Laut Schätzungen könnten bis Ende des Jahres 40 Prozent der im Libanon lebenden Bevölkerung aus syrischen Flüchtlingen bestehen. Auf Deutschland umgerechnet wären das 32 Millionen Flüchtlinge, auf Österreich 3,2 Millionen.

In der Ecke auf der Wache sitzt der 13-jährige Ibrahim und starrt ins Leere. Es war seine Mutter, die auf dem Boot erschossen wurde – direkt neben ihm. Das erzählt er, fast mechanisch, rattert es herunter; auch, dass er dann neben ihr saß und weinte. Jetzt ist er hier nur noch mit seinem 21-jährigen Bruder. Die beiden durften die Wache einmal kurz verlassen: um ihre Mutter auf einem Friedhof in Abukir zu begraben.

Wer Ibrahim gegenübersitzt, weiß so schnell nicht mehr, was er ihn eigentlich fragen wollte, zu offensichtlich sind sein Schmerz und sein Schock. Was Ibrahim denn in Europa am liebsten gemacht hätte, wenn er, sein Bruder und seine Mutter dort angekommen wären? „Mein größter Wunsch war, einfach wieder in die Schule zugehen“, antwortet er kurz. Und was er denn einmal werden wolle? Ibrahim überlegt einen Moment: „Am liebsten“, sagt er, „würde ich Arzt werden, damit ich anderen Menschen helfen kann.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2013)

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