EU: Die Ängste vor dem "Sozialtourismus"

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Großbritannien, Deutschland, die Niederlande und Österreich wünschen sich eine Möglichkeit, EU-Ausländer auszuweisen. Doch das stünde im Widerspruch zum freien Personenverkehr.

Brüssel. Im privaten Alltag mag das Ritual des Briefschreibens zwar so gut wie ausgestorben sein, auf internationaler Bühne erfreut sich diese alte Kulturtechnik aber nach wie vor großer Beliebtheit. Die Bestätigung dafür, dass ein Brief zur rechten Zeit nachhaltige Folgen haben kann, werden die Innenminister der EU am Dienstag liefern: Auf der Tagesordnung ihres Treffens in Luxemburg steht nämlich ein sechs Monate altes Schreiben, in dem die EU-Kommission aufgefordert wurde, gegen Sozialtourismus vorzugehen.

Seit April sorgen die Zeilen, die von den Ressortchefs Großbritanniens, Deutschlands, der Niederlande und Österreichs unterzeichnet wurden, für Turbulenzen. Denn die darin enthaltenen Forderungen stehen im Widerspruch zum freien Personenverkehr, der in EU-Verträgen als eine der vier Grundfreiheiten der Union verankert ist.

Die vier Innenminister wünschen sich demnach eine Möglichkeit zur Ausweisung von EU-Ausländern, die ungerechtfertigterweise von Sozialleistungen ihrer Länder profitieren. Im Visier stehen vor allem Roma und Sinti aus Rumänien und Bulgarien, die angeblich nach Westeuropa pilgern, um dort von der Notstandshilfe zu leben.

Die Motivation der Unterzeichner lässt sich in drei Kategorien einteilen. In Deutschland sind es vor allem die Kommunen, die auf eine Handhabe drängen – genaue Zahlen gibt es zwar nicht, doch offenbar sind in Städten wie Berlin, Dortmund und Duisburg Problemzonen entstanden, die städtische Budgets überfordern. In Großbritannien und den Niederlanden wiederum geht es um Innenpolitik – während Premier David Cameron gegen europafeindliche Hinterbänkler aus eigenen Reihen auf der einen und die UK Independence Party (UKIP) auf der anderen Seite zu kämpfen hat, macht der niederländischen Regierung der Rechtspopulist Geert Wilders zu schaffen.

Bleibt Österreich in der Rolle des nicht betroffenen Sympathisanten, denn Innenministerin Johanna Mikl-Leitner hat wiederholt versichert, es gebe hierzulande keine Erfahrungen mit dem Missbrauch von Sozialleistungen (siehe auch Zitat). Lediglich Scheinehen seien ein Problem – wenn auch ein statistisch nicht erfasstes.

Am Dienstag wird die EU-Kommission ihren Zwischenbericht über die Situation vorlegen, der endgültige Befund ist für Dezember angekündigt. Aus Brüsseler Perspektive handelt es sich um eine Phantomdebatte, denn die Indizien sind alles andere als stichhaltig. Österreich beispielsweise steuerte bis dato lediglich anekdotische Nachweise für den Bericht bei, hieß es in der Vorwoche aus EU-Kreisen – das Kabinett von Mikl-Leitner war für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Auch aus London kam bisher vor allem „anecdotal evidence“, wobei Großbritannien, Deutschland und Frankreich zuletzt Zahlenmaterial geliefert haben sollen. Statistische Unterstützung gibt es dafür aus anderen Ländern Westeuropas. Dem Vernehmen nach sollen Frankreich, Belgien und Dänemark ebenfalls Belege für Sozialtourismus geschickt haben. Die Brüsseler Behörde machte bisher klar, dass sie erstens von dem alarmistischen Grundton im Brief der vier Innenminister wenig bis gar nichts hält und zweitens ohne eindeutige Beweislage keinen Handlungsbedarf sieht. „Das erste Schreiben war in einigen Punkten unglücklich formuliert“, gibt auch ein EU-Diplomat zu.

Schengen-Beitritt oft verschoben

Das morgige Treffen dürfte nur einen Vorgeschmack auf das Jahresende liefern. Im Dezember steht nicht nur der Schlussbericht der Kommission auf der Brüsseler Agenda, sondern auch die Frage des Beitritts von Rumänien und Bulgarien zur Schengen-Zone. Dieser wurde immer wieder verschoben, und zwar aus Sorge vor Korruption – alle technischen, rechtlichen und organisatorischen Bedingungen für den Beitritt haben die beiden Länder längst erfüllt. Und am 1. Jänner fallen die Schranken für arbeitssuchende Rumänen und Bulgaren. Während Beschäftigungskommissar László Andor Befürchtungen über eine Einwanderungswelle zurückweist, macht UKIP-Chef Nigel Farage die Angst der Briten vor „fremden kriminellen Banden“ zum Hauptthema des Europawahlkampfs 2014.

Neben der Debatte um den angeblichen Sozialtourismus wird wohl noch ein anderes Thema zu heftigen Kontroversen beim morgigen Treffen der Innenminister führen – auch wenn es offiziell gar nicht auf der Agenda steht: die Frage nach den politischen Konsequenzen aus der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa (siehe Bericht, Seite 6).

FREIZÜGIGKEIT AB 1.JÄNNER 2014

Bulgarien und Rumänien kamen am 1.Jänner 2007 bei der sechsten Erweiterung der EU (Osterweiterung, Teil 2) in die Europäische Union. Doch die Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus diesen beiden Ländern wurde für eine Übergangsfrist von sieben Jahren eingeschränkt. Diese Frist läuft am 31.Dezember 2013 ab. Dann gilt auch für Rumänen und Bulgaren, was für alle EU-Bürger gilt: Sie dürfen in jedem EU-Land arbeiten, zu diesem Zweck dort wohnen und auch nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses dort bleiben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2013)

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