Verdi und Wien: „Jössas, Se sand da Verdi!"

Verdi
Verdi (c) imago stock&people (imago stock&people)
  • Drucken

Vor genau 200 Jahren, am 10. Oktober 1813, wurde Giuseppe Verdi geboren. Wie er vom Wiener Kritiker Eduard Hanslick als "untalentiert" beschimpft wurde, die Locke Mozarts streichelte und zum Star wurde - und wie ihn die Wiener Opernliebhaber erlebt haben könnten: eine (nur halb) fiktive Zeitreise .

Es war, obwohl der Wind von Westen her recht wehte, ein schöner Vormittag in Wien. Man zählte Anfang April des Jahres 1843 und gerade den Beginn der Fasten-Spielzeit in den Wiener Theatern. Die Sonne schien nicht unwarm und die Bäume begannen, vorsichtig ihre Knospen aufzuspreizen, sodass Legationsrat Eybner, ein leidenschaftlicher Opern-Besucher und fast schon Experte auf dem Gebiet, beschloss, sich diesmal bereits so früh im Jahr (sicherheitshalber nahm er seinen Düffel­mantel mit) mit seinem Freund zu einem Frühlings-Freilufttreffen im Café Bellevue nächst dem Kärntnerthor-Theater auf ein Frühschopperl zu treffen. Sein Freund, ein ebenso großer Opern-Enthusiast wie er, nur leider etwas schwerhörig (obwohl vermutlich nur ein Cerumen obturans vor­lag), wurde von allen nur „Vickerl" genannt - keiner kannte seinen wahren Namen, aber den Ver­mutungen nach könnte er ein Bastardl aus dem Kaiserhaus ebenso gewesen sein wie ein ablöse­geiler Naschmarkt-Standler. Dennoch: er sprach wohlgesetzt in mehreren Muttersprachen, war in ziemlich allen Wissenschaften ziemlich gut bewandert, war ein Kenner der alten und der zeitgenössischen Musik - und vor allem ob seiner Bildung und seiner charmierenden Attitude ein höchstgeschätzter Conversationspartner auch in Damen-Cirkeln.

Sie begrüßten einander embrassierend, bestellten je ein Sacherwürstel und ein Seidl Ober-Liesinger Felsenkeller-Bräu und okkupierten von da an den Gastgarten als Parloir. Worüber? Natürlich über den jungen italienischen „Neutöner", einen gewissen Franzosen aus Parma namens Joseph Fortunin Francois Verdi, der am Vorabend erstmals außerhalb seiner Heimat eine Aufführung seiner jüngsten und bislang überall bejubelten Oper „Nabucco" dirigierte. Eybner horchte sich die Oper an und war enthusiasmiert: „Solche Chor-Szenen - phänomenal! Solche Baritöne - sensationell!! So a junger Itaker muss uns Deutschen zeigen, wie's mit der Musik weitergeht!! Es war großartig, der Nabucco!! Hab auch schon von einem „Attila" gehört und von einer „Giovanna d'Arco" oder so, die er komponiert hat!!" Vickerl meinte karg: „Werd i den Verdi morgen Abend in der Oper auch hören?" Eybner drauf: „Hören vielleicht nicht so - aber lern Lippenlesen! Naja das hilft ja nur beim Text, und der is eh Wurscht, die Höhen und Tiefen kannst nur gspüren!! Atmosphärische Schwingungen empfangen - das musst lernen! Du musst eine musikalische Wünschelrute sein, erst dann kannst die Besonderheit dieser neuen Musik fühlen und verstehen und inhalieren..."

Freilich: Verdi war kein Franzose sondern ein, wie er sich selbst kokett nannte, „Bauer aus Roncole" im napoleonisch besetzten Parma, bescheiden, sparsam, humorvoll, gütig, manchmal auch schroff und brüsk. Er sprach ein lombardisch angehauchtes, klangvolles Italienisch, parlierte aus­gezeichnet Französisch und radebrechte Deutsch und Englisch - dies wohl nur, um im musikali­schen „Geschäft" agieren zu können. „Ich weiß, der Raimund hätte ihn sagen lassen 'Ick sprecken nickt gut Ihnere Spracke'", meinte Vickerl lachend, „Sag, Eybner, war sein Vater nicht auch Sänger?" „Nein, mein Lieber, Verdis Vater war Bauer und Gastwirt und recht unmusikalisch noch dazu. Aber immerhin: er hat seinem Sohn Giuseppe eine profunde musikalische Ausbildung zu­kommen lassen - na, und jetzt steht der als grad einmal Dreißigjähriger in Wien am Dirigierpult, in Wien! Und das ist ja kein Lercherlschaas, in Wien!, im besten Opernhaus aller besten!!" „Naja" Vickerl blieb distanziert „Mailand ist schon auch gut, haben ja denselben Direktor, und Paris ist auch gut und Petersburg auch und so..."

Verdis erste Opern, allesamt in Italien uraufgeführt, waren, sagen wir so, bloße Mitläufer im Mailänder Operngeschehen, nicht schlecht, aber auch nicht sensationell gut (manche wurden auch ausge­pfiffen) - bis Verdi mit seinem „Nabuccodonosor" begann, in einer für die damalige Zeit neuartigen Musiksprache Schicksale und Geschichten aufzubereiten: das Orchester war nicht mehr bloß artiger Begleiter schöner Arien sondern Mitgestalter, aufwühlend oft und sanft besänftigend gleich darauf, heiter und bösartig, die Sänger trugen ihre Rollenschicksale nicht mehr in Einzelarien unterbrochen von Rezitativen vor sondern eingebettet in den vom Orchester vorgegebenen Handlungsstrang, in das vorgegebene Tempo, die vorgegebene Dynamik. Sie waren immer noch die Sterne am Opernhimmel, aber durch den Zusammengesang und das Zusammenspiel mit dem Orchester wurde aus den Sternen eine Galaxie. Adalbert Stifter hatte Mozarts Musik mit funkelnden Edelsteinen verglichen, einer herrlicher als der andere, und Beethovens Musik wie einen Steinschlag aus solchen Edelsteinen, die einen mit Wunderbarkeit erschlagen - welchen verbalen Superlativ hätte er erst für Verdi finden müssen?!

Und dazu kam noch, dass die italienischen Opern nur auf Italienisch gesungen richtig klangen, schön und animierend klangen. Aber dieser welsche Einfluss war nicht beliebt, wenn man dem damaligen „Starkritiker" Eduard Hanslick glauben darf („Jene Mischung von Energie und Leidenschaft mit hässlicher Rohheit"), weil man in Wien die Sprache nicht verstand, weil Italien Kriegsgegner Österreichs war, weil Lignano und Jesolo und Grado noch nicht zur Badewanne der Monarchie geworden waren. Also wurde Verdis Aufführung von „Nabucco" in Wien zu Beginn der Fastenzeit 1843 zwar mit Beifall angenommen, aber die Erwartungen der Wiener wurden nur zum Teil erfüllt. Hanslick sollte seine Meinung, nachdem er später Verdi-Opern auf Italienisch gehört hatte, grundlegend ändern.

Vickerl meinte, dass der „Nabucco" und auch der „Donosor" („Nein, nein, Eybner, war nur ein Scherzerl, aber das Bier hier ist richtig gut!") in Mailand einen sensationellen Erfolg eingefahren und sogar den griesgrämigen Witwer Verdi zur Ehe mit seiner Protagonistin als Abigaille, der schönen Clelia Maria Josepha Strepponi genannt „Giuseppina", animiert hätte. ('Musik ist der Schlüssel zum weiblichen Herzen' © Victor Hugo). Freilich half zu dem Erfolg in Mailand mit, dass die Besucher der Scala „Nabucco" als eine politische Oper interpretierten, die die Befreiung Italiens von den Österreichern und den Franzosen forderte - was in Wien so natürlich niemand hören wollte. Hanslick kommentierte dies auf seine Art: „Welch öde Langweiligkeit, gepaart mit Hanswurstsprüngen! Welches Untalent und Unverständnis! Welche hier rafiniert-überspannte, da lächerlich-naive Ausdrucksweise!"

Nun: Verdis Fußspuren in Wien und Male seiner Kunst sind nach diesem ersten Besuch in der, wie sie sich nennt, Metropole der Oper und des Wohlklanges, sehr gering. Die Konkurrenten wie Nicolai oder Meyerbeer spotten über ihn („Verdi e merdi"), die Gruppe der Wagnerianer neglegiert ihn, obwohl die beiden Operngiganten dieser Ära eigentlich dasselbe ausdrücken wollen: nur die Liebe kann die Welt retten, kann Menschen und Schicksale lenken, befördern oder vernichten. Sinngemäß meint Verdi einmal, dass er im deutschen Sprachraum keine geeigneten Sängerinnen und Sänger finden könne, die den Gesang, so wie er ihn vorgebe, mit dem Strömen des Atems, mit dem Ausbruch der Seele verbinden könnten, den Ton naturvoll gestalten und ihre Rolle verständnisvoll darstellen könnten. Deutschsprachige Sänger würden ihn immer an ein Gymnastik-Studio erinnern: mit möglichst viel Muskelkraft und einem möglichst hohen Body-Mass-Index möglichst laut möglichst hohe Töne herausschmettern zu können. (Noch Gustav Mahler testete Bewerber/innen für Wagner-Rollen auf ihre Stimmkraft hin, indem sie sich in der Hofoperndirektion rücklings auf den Boden legen und irgendeine schwierige Passage im Liegen singen mussten, während Mahler etliche Räume weiter die Kraft der Stimme beurteilte!)

So. Der Vormittag, den der Legationsrat Eybner mit seinem Freund Vickerl so famos im Bellevue-Gastgarten verbrachte - im Hintergrund spielte das Café-Orchester hübsche Melodien, die Sonne verdunkelte sich ein wenig und der Wind wurde stärker - ging zu Ende. Zuhause warteten Ehefrauen oder Freundinnen oder so mit einem kleinen Diner und dilaceriren wollte man sich ja doch auch nicht.

***

Es war, obwohl der Wind von Westen her recht heftig wehte, so,als ob die Luft in Ehrfurcht vor der Sonne stehen geblieben wäre, als ob ein Monsun oder ein Sahara-Wind Wien in toto aufbrateln würde: es war eine für Anfang Juni 1875 unsäglich schwitzige, unendlich untragbare Hitze hereingebrochen, die die Stadt erlahmen und ganztags Siesta halten ließ. Die Bäume, die Blumen, die Fiakerpferde hätten dringend Wasser gebraucht, aber die verantwortlichen himmlischen Heerscharen hielten den Regenhahn fest verriegelt.

Der Gesandte Eybner, der für Kulturagenden nach Lemberg und später - gemäß dem Rotationsprinzip - nach Bern eingeteilt wurde (Bern gefiel ihm übrigens gar nicht, auch wegen der Alphornbläser, die in Bruckners Achter aus landsmännischen Gründen eingesetzt wurden, oder?) - erlaubte sich, zu Hause in puris naturalibus und in der Öffentlichkeit bloß mit einem Chemiserl ohne Plastron bekleidet sich zu präsentieren. Er wollte sich mit Vickerl auf ein Frühschöppchen treffen - aber das Café Bellevue gab es nicht mehr, weil eine Ringstrasse auf apostolisches Geheiß hin samt einer prächtigen Hofoper entstanden war. Also gings ins Landtmann auf ein Sacherwürstel (wie sehr waren sie ihm in Bern abgegangen!!) und ein Seiderl Kartäusenbräu aus Gaming.

Verdi kam am selben Tag mit dem Zug von Paris nach Wien - mitsamt seiner Frau, seinen vier Sängerstars, mit denen er schon Triumphe in Mailand und Paris gefeiert hatte, und viel italienischem Rotwein - um diesmal die italienisch gesungene Aufführung seiner Weltsensationsoper „Aida" und seines Weltsensations-Requiems „Messa da Requiem" selbst zu organisieren, zu dirigieren und alle Wiener Kritiker seiner Musik und der Italianitá von der Großartigkeit seines Schaffens zu überzeugen.

Vickerl fragte: „Werd i den Verdi jetzt schon wieder sehen? Eigentlich mag ich gar nicht so sehr, weil der Hanslick - und der versteht sein Handwerk und das ganze Opern-Metier - hat gschrieben, dass diese „Aida" unendlich langweilig wäre. Fad halt einfach." „Nana, mein Freund - das ist jetzt alles anders", replizierte Eybner. „Er schreibt jetzt nicht mehr das Laute und das Tschindarässässä, sondern ganz zarte, wunderschöne, herzergreifende Melodien. Natürlich wird's im Requiem auch heftig und wild, aber sonst höraten die Toten ja nix davon!" Vickerl: „Ja hast wahrscheinlich eh recht, weil wenn sogar die Eisenbahn (etwas, was in hundert Jahr nimmer machen werden, das schienenstranggebundene Denkvermögen verhindert ja Weichen im Fahrplan geradezu!) Extrazüge bis Vöslau, bis zum Semmering und so führt, damit die Urlauber auch zum „Requiem" kommen und rechtzeitig zurückkommen können in die Heia - na, dann erwarten sich die Wiener aber schon ein größeres Remitemi!"

Das „Requiem", von dem Johannes Brahms urteilte „So etwas kann nur ein Genie schreiben!", wurde zu einem musikalischen Triumph, wie ihn Wien noch nie erlebt hatte: Applaus unterbrach das Konzert, während des Spiels, „Da capo"-Rufe mussten erfüllt werden, ja ganze Encores erzwang das Publikum. Verdi wurde gefeiert wie ein König, während kurz zuvor noch Otto Nicolai, der das Hofopern-Orchester zu höchster Qualität formte, meckerte: „Seine Opern sind aber wahrhaftig scheußlich und bringen Italien ganz herunter... Unter diese Leistungen kann man nicht mehr sinken!"

Und dann kam Hanslick. Sein Artikel „Verdi in Wien" ist entgegen seiner Kritik aus 1843 ein Hymnus auf den italienischen Komponisten. (Eybner sagte: „Na, sixt es?") „Unsere gebildetsten Kenner und Liebhaber, worunter ein stattliches Contingent geschworener Verdi-Gegner, stimmten rückhaltlos in den allgemeinen Beifall ein." Die Aida sang (auf Italienisch!) Teresa Stolz, eine Prager Tante von Robert Stolz, mit der Verdi in Wien ein besonders intensives Gschpusi hatte. Verdi liebte Wien und benörgelte bloss, dass in der Oper der Zuschauerraum nicht völlig abgedunkelt wurde, dass der Bühnenboden zu flach und daher perspektivenlos sei und dass die Opern gekürzt gespielt werden mussten, weil die Wiener Hausmeister die Pflicht hatten, spätestens um zehn Uhr abends die Haustüren zu schließen. Mit großer Demut las Verdi im Museums des Wiener Conservatoriums die Original-Partitur von Beethovens Eroica, streichelte die Locke Mozarts und genoss im Garten des Cafés Johann-Strauss-Melodien (die er - angeblich - in Don Carlo „imitierte").

Und was haben wir heute noch von Verdi in Wien? Vickerl meinte „Eine Konditoreikette!". Eybner meinte „Eine Apotheke, eine Pizzeria, ein Cafè". Dazu ein Wohnpark in Simmering. Ein Restaurant „Verdi", das Schnitzel und Wiener Hausmannkost anpreist. Eine Traviatagasse. Nicht einmal eine Gedenktafel an dem Hotel, das er zweimal bewohnte: das Hotel Ambassador hat ihn vergessen. Eine Namenstafel, eingelassen in Gehsteigasphalt bleibt noch. Bis etwa 1950 spielte man wenigstens in der Wiener Grottenbahn noch Verdi-Musik.

Sonst noch was??? Ja, natürlich!!! Eybner und Vickerl haben es verdrängt: die herrlichste Musik, die schönsten Kompositionen, das aufwühlendste Requiem! Verdi und Vienna: ein kurzes, aber intensives Verhältnis.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Literatur

Alles Spaß auf Erden?

Verdi, der Erneuerer, Verdi als Komponist, Verdi kompakt, Verdi psychoanalytisch, Verdi im Zitat, Verdi, ein Bekenntnis. Das Verdi-Jahr hat eine Menge Literatur hervorgebracht, nicht immer als Fortentwicklung der schon länger vorliegenden. Ein Überblick zum 200. Geburtstag.
Giuseppe Verdi dirigiert Zeichnung
Klassik

Verdis 200. Geburtstag: Seine wichtigsten Werke

Giuseppe Verdi schuf einige der beliebtesten Opern der Musiktheatergeschichte. Eine Auswahl.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.