Dank verstärkter Kooperation der EU-Grenzschützer sollen weniger Flüchtlinge auf hoher See sterben.
Brüssel. Der Zeitpunkt war zwar purer Zufall, doch er hätte nicht besser gewählt werden können. Just acht Tage, nachdem vor der Küste von Lampedusa hunderte Flüchtlinge aus Afrika ertranken, segnete das Europaparlament in Straßburg am gestrigen Donnerstag ein verschärftes EU-Grenzüberwachungssystem ab. Hinter dem Akronym Eurosur (European Border Surveillance System) verbirgt sich ein dreistufiges Projekt zur Vernetzung und Koordination der nationalen Grenzschützer der Union unter der Ägide der europäischen Agentur Frontex. Das Programm, das seit 2011 vorbereitet wird, hat drei Ziele: weniger illegale Einwanderung nach Europa, weniger Todesfälle auf hoher See sowie mehr Sicherheit innerhalb der EU durch die Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität.
In einem ersten Schritt sollen die nationalen Behörden dazu gebracht werden, sich miteinander zu vernetzen (was unter anderem den Aufbau von nationalen Koordinierungsstellen bedeutet) und beispielsweise Informationen über die Lage von Flüchtlingsbooten auszutauschen. Als Nächstes folgt eine bessere Überwachung der (nicht nur maritimen) EU-Außengrenzen in Echtzeit – hier sollen auch Aufklärungsdrohnen und Satelliten zum Einsatz kommen. Und zu guter Letzt soll das Eurosur-Netzwerk auch zur Kontrolle der Fischbestände und zur allgemeinen Verbesserung der maritimen Sicherheitslage eingesetzt werden. Der Startschuss für Eurosur soll zum Jahresende fallen, für den Betrieb des Systems wurden in der kommenden EU-Finanzperiode (2014–2020) bereits knapp 250 Mio. Euro budgetiert – im Unterschied zu jenen 30 Millionen Euro, die EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso am Mittwoch der Regierung in Rom zugesagt hat, um die Situation in den überfüllten italienischen Flüchtlingslagern zu verbessern.
Debatte um Solidarität
Dass sich die EU im Umgang mit Flüchtlingen besonders schwertut, liegt daran, dass das Thema gleich zwei fundamentale nationale Kompetenzen berührt – die Sicherung der eigenen Grenzen sowie den Umgang mit (oftmals unfreiwilliger) Migration. Die Gräben verlaufen dabei nicht nur zwischen den EU-Mitgliedern selbst, sondern auch zwischen den Institutionen der Union. Während beispielsweise Martin Schulz, der Präsident des Europaparlaments, für einen Aufteilungsschlüssel für Flüchtlinge innerhalb der Union plädiert, spricht sich Schulz' Landsmann, der für Energiefragen zuständige Kommissar Günther Oettinger, gegen Vorgaben aus: „Ich glaube, dass die Deutschen schon einiges machen“, sagte Oettinger zu Wochenbeginn bei einer Präsidiumssitzung der CDU.
Das führt geradewegs zum Konflikt zwischen den EU-Mittelmeeranrainern und dem Norden der Union, der mit dem Problem nicht direkt konfrontiert ist. Der Umgang mit Flüchtlingen wird in der EU im Rahmen des sogenannten Dublin-II-Abkommens geregelt – Herzstück ist die Klausel, derzufolge jenes EU-Land, das ein Flüchtling zuerst betritt, für dessen Asylantrag zuständig ist. Die Konsequenz: in Italien gestrandete Flüchtlinge, die Richtung Deutschland und Skandinavien weiterreisen wollen und an der Grenze abgewiesen werden (siehe Seite 1). Vereinfacht ausgedrückt lautet der Frontverlauf innerhalb der Union folgendermaßen: Die mit Bootsflüchtlingen konfrontierten Südeuropäer klagen über unhaltbare Zustände und fordern Europas Solidarität ein, während der Norden auf Dublin II und die Befindlichkeiten der eigenen Wählerschaft verweist und zugleich mit Zahlenmaterial hantiert, um die Klagen aus Italien, Spanien und Griechenland zu relativieren.
Differenziertes Bild
In der Tat zeichnen die aktuellen Flüchtlingsstatistiken von Eurostat ein differenzierteres Bild. So ist zwar im zweiten Quartal 2013 die Zahl der Asylanträge in der EU auf Jahressicht um 50 Prozent auf mehr als 100.000 gestiegen. Die größten Zuwächse verzeichneten allerdings nicht die südeuropäischen Länder, sondern Deutschland, Ungarn, Bulgarien und Polen – die meisten Flüchtlinge kamen zuletzt nicht übers Mittelmeer, sondern aus Russland (sprich Tschetschenien) und dem Kosovo in die EU. Die Flüchtlinge, die das Mittelmeer überqueren, stammen hingegen überwiegend aus Ostafrika. (Anmerkung am Rande: Die jüngste Flüchtlingswelle Richtung Italien, die in der Katastrophe vor Lampedusa kulminierte, ist in den Statistiken noch nicht erfasst).
Für zusätzliche Konfusion sorgt in der Debatte der Bürgerkrieg in Syrien, der eine massive, allerdings regional fokussierte Flüchtlingswelle ausgelöst hat. Nach UN-Schätzungen mussten 2,14 Millionen Syrer ihr Land verlassen, 97 Prozent von ihnen halten sich allerdings in der unmittelbaren Nachbarschaft auf. Lediglich rund 35.000 Personen sind bis dato nach Europa gekommen – die bevorzugte europäische Destination ist übrigens Schweden, das mittlerweile rund 7000 Syrer aufgenommen hat, gefolgt von Bulgarien. Zum Vergleich: In Österreich wurden bis Ende August 2013 insgesamt 811 Asylanträge syrischer Flüchtlinge gestellt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2013)