Seit Anfang Oktober sind vorerst 31 Spezialisten der UN vor Ort, um die Giftlager der Assad-Armee zu sichern. Bis Mitte 2014 sollen mehr als 1000 Tonnen Kampfstoffe beseitigt sein.
Solche Bilder wären vor einer Woche noch völlig undenkbar gewesen: Spezialisten mit Blauhelmen und Schutzanzügen tappen nahe Damaskus durch spärlich beleuchtete Räume, lesen Anzeigen auf Armaturen und Konsolen ab und machen sich Notizen. Ein anderer mit Gasmaske hält seinen Detektor unter ovale Chemikalienfässer, die in einer langen Reihe installiert sind. Unter ihrer Aufsicht, so gaben die Experten der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) bereits diese Woche bekannt, hätten syrische Soldaten mit Schneidbrennern und Winkelschleifern erste Chemiewaffenteile unbrauchbar gemacht, darunter „Sprengköpfe, Bomben sowie Geräte zum Anmischen und Abfüllen“.
Seit Anfang Oktober sind die ersten 31 Giftgasexperten im Auftrag der Vereinten Nationen vor Ort, in den nächsten Tagen reisen weitere 70 an. Sie sollen im kommenden Dreivierteljahr die Vernichtung der Chemiewaffen von Diktator Bashar al-Assad und seinen Streitkräften überwachen. Gleichzeitig tritt Syrien am kommenden Montag offiziell als 190. Staat der internationalen Chemiewaffenkonvention von 1997 bei, welche Entwicklung, Produktion, Lagerung und Besitz dieser Nervengifte verbietet (von winzigen Restmengen für wissenschaftliche und medizinische Zwecke abgesehen).
Ein beispielloses Unterfangen
Nach dem Willen des UN-Sicherheitsrates muss die OPCW-Mission in dem Bürgerkriegsland bis Mitte 2014 abgeschlossen sein, auch wenn das brisante Mammutprojekt in der Geschichte der Abrüstung bisher ohne Beispiel ist: Denn die Expertenteams arbeiten unter realen Kriegsbedingungen. An mehr als zwanzig Standorten hat die syrische Armee ihre teuflischen Vorräte gelagert. Zufahrt und Arbeit vor Ort sind daher lebensgefährlich, denn das Morden im Land geht mit herkömmlichen Waffen unvermindert weiter, mehr als 120.000 Menschen sollen bereits gestorben sein.
Nach dem Giftgasangriff am 21. August auf zwei Trabantenstädte von Damaskus war der internationale Druck auf Assad so enorm gewachsen, dass das Regime Mitte September zustimmte, seine Chemiewaffen freiwillig auszuhändigen – zuvor hatten die USA und Frankreich Militärschläge gegen Syrien angedroht. Zwar behauptet Damaskus nach wie vor, nicht die eigene Armee, sondern die Rebellen hätten das Giftgasmassaker mit mindestens 1400 Opfern angerichtet. Doch die Analysen und Indizien, die ein UN-Expertenteam unter der Leitung des Schweden Ake Sellström vor Ort zusammentrugen, weisen eindeutig in Richtung Regimetruppen.
Mindestens 1000 Tonnen Gifte
Nach Angaben von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon besteht der OPCW-Einsatz in Syrien aus drei Phasen. In den nächsten Tagen sollen die Teams die Angaben des Regimes über dessen Kampfgasvorräte verifizieren. Bis zum 1. November muss Assads Armee dann unter Aufsicht der Kontrolleure alle Abfülleinrichtungen und potenziellen Giftgassprengköpfe unbrauchbar machen. Bis Mitte 2014 sollen schließlich sämtliche Chemiewaffenkomponenten sowie bereits fertig angemischtes oder in Munition gefülltes Kampfgas unschädlich gemacht sein – es handle sich um „schätzungsweise 1000 Tonnen, gefährlich zu handhaben, gefährlich zu transportieren und gefährlich zu zerstören“, wie Ban Ki-moon schreibt.
Die USA haben bereits angeboten, eine hochmoderne mobile Verbrennungsanlage zu liefern. Auch Deutschland und Russland wollen Hilfe beisteuern. Noch sind die Kontrolleure mit der Kooperationsbereitschaft Syriens zufrieden, ohne sich aber Illusionen zu machen. „Auch wenn wir einen konstruktiven Start hatten, vor uns liegt ein langer und schwieriger Weg“, erklärte OPCW-Generaldirektor Ahmet Üzümcü, ein 62-jähriger Türke.
Jahrzehntelang war Syriens Giftgasarsenal für die Welt ein Rätsel und ein gut gehütetes Geheimnis des Regimes. Erstmals im Juni 2012 räumte ein Sprecher Assads die Existenz dieser Waffen offiziell ein. Die Anfänge des Programmes reichen zurück bis in die 1970er-Jahre, als Ägypten vor dem Jom-Kippur-Krieg 1973 gegen Israel seinem Verbündeten kleinere Mengen an Chemiewaffen überließ.
Tabun, Sarin, Senfgas
In den 1980er-Jahren baute Damaskus sein Arsenal aus, auch wenn es von Technologieimporten und Rohstofflieferungen abhängig blieb. Zunächst schickten die Sowjetunion und Tschechoslowakei die Giftgasgeschosse und organisierten das Training im Umgang mit den gefährlichen Waffen. Nach Ende des Kalten Krieges beteiligten sich auch westliche Firmen am Geschäft mit dubiosen Chemikalien. Syriens Arsenal besteht vor allem aus Nervengasen wie Tabun, Sarin und VX, aus Senfgas und anderen unbekannten Stoffen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.10.2013)