"Unbreakable": Opfer, die Täter beim Wort nehmen

Opfer ihre Taeter beim
Opfer ihre Taeter beim(c) Project Unbreakable
  • Drucken

Die amerikanische Kunststudentin Grace Brown hat in den vergangenen zwei Jahren Hunderte Vergewaltigungsopfer mit Zitaten ihrer Peiniger fotografiert. Dieses »Project Unbreakable« sorgt für öffentliches Bewusstsein und hilft den Betroffenen, mit ihren Qualen besser umzugehen. In Österreich gibt es dagegen noch kaum Frauen oder Männer, die ihre Missbrauchserlebnisse öffentlich machen.

An einem Oktoberabend vor zwei Jahren, in ihrem ersten Semester an der School of Visual Arts in New York, war für Grace Brown das Maß voll. Eine gute Freundin hatte ihr damals davon erzählt, wie sie zum Vergewaltigungsopfer geworden war. „Das hat für mich das Fass zum Überlaufen gebracht“, sagt die heute 21-Jährige im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. „Ich hatte zwar schon vorher viele Bekannte und Freundinnen, die sexuell angegriffen worden waren. Aber an diesem Abend ging ich ziemlich verstört über den Umgang schlafen, dass das noch immer Menschen angetan wird, die mir etwas bedeuten.“ Und so fasste sie am nächsten Morgen den Entschluss, Vergewaltigungsopfer zu fotografieren, die ein Schild in Händen halten, auf dem eine Aussage ihres Peinigers zu lesen ist. „Ich fragte meine Freundin, was sie davon hält. Sie fand das ausgezeichnet und wurde die erste Person, mit der ich in diesem Projekt zusammengearbeitet habe.“

Das Projekt trägt den Namen „Unbreakable“, und sein Erfolg ist bemerkenswert. Binnen zweier Jahre hat Grace Brown selbst 480 Frauen und 20 Männer fotografiert, die vergewaltigt worden sind. Zusätzlich hat sie rund 2500 Zusendungen bekommen. Wenn Brown in eine Stadt kommt, kündigt sie das vorab im Internet an und lädt zur Teilnahme ein. Die Opfer, sagt sie, kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten, aus allen Ecken der Vereinigten Staaten, aus allen Ethnien. „Es ist überall. Sexuelle Angriffe können jedem passieren“, sagt Brown.


Auch Madonna ist ein Opfer. Das Tabuthema Vergewaltigung hat vergangene Woche in den USA mit der Ankündigung der Sängerin Madonna, sie sei als junge Frau vergewaltigt worden, breitere Aufmerksamkeit erhalten. Und schon seit Monaten finden sich zwei Säulen der traditionellen amerikanischen Gesellschaft dem Vorwurf ausgesetzt, Vergewaltigung und sexuelle Belästigung stillschweigend zu dulden: die Streitkräfte und American Football.

Laut Statistik des Pentagon gab es im Jahr 2012 rund 26.000 Fälle von sexueller Nötigung im amerikanischen Militär: vom dreckigen Herrenwitz bis zur Vergewaltigung mit bleibenden körperlichen und seelischen Schäden. Doch nur jeder Hundertste dieser Fälle landet vor einem Militärgericht. Die Kultur des Schweigens trägt Uniform – und sie ist so tief verwurzelt, dass ein Sonderbeauftragter für Vergewaltigungsopfer vor ein paar Monaten seines Amtes enthoben und verhaftet wurde, nachdem er selbst eine Frau auf einem Parkplatz zu vergewaltigen versucht hatte.

Ähnliche Probleme hat American Football. Der Fall zweier junger Spieler in Steubenville, Ohio, die eine Schülerin im betrunkenen Zustand über einen Zeitraum von sechs Stunden wiederholt missbraucht hatten, sorgte landesweit für Entsetzen. Allerdings fanden sich auch dort zahlreiche Stimmen, die meinten, die junge Frau hätte halt nicht auf diese Party gehen und sich dort betrinken sollen. Ein fast wesensgleicher Fall brachte zwei Kadetten und Football-Spieler der Marineakademie vor ein Militärgericht. Auch in diesem Fall versuchten die Anwälte der Angeklagten, das Opfer als leichtsinnige Schlampe darzustellen.

„Oft wird das Opfer kritisiert, nicht der Täter“, sagt Brown. „Was hast du getragen? Was hast du getrunken?“ Das Projekt „Unbreakable“ wirke dem entgegen. „Man kann ja das schwer gutheißen, was auf den Postern steht. Dann richtet sich der Zorn gegen die Täter. Das ist gut so. Sie haben ja die Schuld.“ Für die Opfer wiederum sei es befreiend, ihr oft jahrelang quälendes Geheimnis endlich lüften zu können. „Sie fühlen sich dann weniger isoliert, weil sie das Gefühl haben, diese schlimmen Erfahrungen mit jemandem teilen zu können.“

„Du lachst wie deine Mutter“, hätte Mia vielleicht als Zitat auf ein solches Plakat geschrieben. Die 23-jährige Deutsche hat im September einen anderen Weg gewählt: Sie hat begonnen, ihre Geschichte vom Missbrauch durch ihren Vater auf YouTube zu erzählen. „Ich hoffe, dass ich dadurch anderen helfen kann“, sagt das Mädchen mit den blonden Rastalocken, während sie mitten in der Nacht vor ihrem Laptop im Badezimmer kauert, um die anderen in der Wohnung nicht zu wecken. Dort schildert sie aus einem alten Tagebuch, wie sie sich als Zwölfjährige Sorgen machte um ihren Vater, seine Einsamkeit, seinen hohen Blutdruck. „Ich bestehe darauf, dass ich ihn so geliebt habe, weil das die Sache schwerer gemacht hat. Denn dadurch war es so schwer für mich einzusehen, später, dass er falsch gehandelt hat. Es ist schwer einzusehen, dass mein eigener Vater das getan hat, mein Gott, mein ein und alles, meine große Liebe. Damals, jetzt nicht mehr.“


Mauern des Schweigens. Ein Video online zu stellen ist die mutigste Variante, mit dem Erlebten an die Öffentlichkeit zu gehen – mit allen Risken, vor denen man die Facebook-Generation schon bei banalen Party-Fotos warnt. Wie groß der Schritt ist, wird klar, wenn man selbst versucht, mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Sogar in einschlägigen Online-Foren vermeiden die (ohnehin anonymen) Betroffenen Details. Beratungseinrichtungen stellen prinzipiell keine Kontakte her: auch, weil sich ihre Klienten meist in sensiblen Phasen befinden.

So bleibt das Thema Vergewaltigung oft nachrichtlich abstrakt – und ist gleichzeitig trotzdem so greifbar, weil vermutlich jeder jemanden kennt. Und man erinnert sich plötzlich: An die ehemalige Arbeitskollegin, die einmal eher nebenbei erzählt hat, dass ihre geliebte Tochter einer Vergewaltigung durch den damaligen Freund entstammt. Ebenso wie der jüngste Sohn einer Bekannten, die vom eigenen Mann vergewaltigt wurde – und jahrelang an Schuldgefühlen litt, aus Angst, dieses Kind weniger zu lieben. Da ist die Freundin, die mit ihrer Firma auf Dienstreise war: Ein netter Kollege klopfte nachts an ihre Tür, sie ließ ihn gutgläubig ein, er fiel über sie her. Oder eine andere Bekannte, auch sie war mit Kollegen auf Dienstreise...

Soll man darüber sprechen? Wenn ja, wann? Mit wem? Und was bedeutet das für die andere Person? All das sind schwierige Fragen, auf die es keine allgemeingültige Antwort gibt. „Meine Faustregel ist: so wenig wie möglich, so viel wie nötig“, sagt Sonja Wohlatz von der Beratungsstelle Tamar. Beratungseinrichtungen raten Betroffenen, möglichst früh zu ihnen zu kommen, um genau das zu besprechen. „Es ist okay, etwas jemandem nicht zu sagen“, sagt Ursula Kussyk von der Notrufberatung für vergewaltigte Mädchen und Frauen. „Unterstützung aus dem Umfeld ist gut, aber es sollten die richtigen Leute sein, die das auch verkraften oder bereit sind, sich Unterstützung zu holen.“

Denn zu den Vorwürfen, mit denen sich Betroffene unweigerlich selbst quälen, können schnell weitere aus dem engsten Umfeld kommen. „Wir haben gerade eine Mutter, die meint, ihre Tochter sei selbst schuld, weil sie auf einem Schulausflug unerlaubt mit anderen Mädchen unterwegs war“, berichtet Kussyk. Ein, so die Sozialarbeiterin, auch wieder verständliches Verhalten. Natürlich seien auch die Angehörigen schockiert, zeigen Abwehrreaktionen: Schuldgefühle, Hilflosigkeit, Wut, die sich nicht gegen einen oft nicht greifbaren Täter richtet – was in „Warum hast du nicht...?“ und „Warum bist du ...?“ endet. „Das wirkt“, so Wohlatz, „wie eine Schuldzuweisung, auch wenn es nicht so gemeint ist.“

Das Problem mit dem Darübersprechen sei auch, „dass es sich immer wieder so anfühlt, als gebe man etwas von sich weg. Man hat keine Verfügungsgewalt mehr, weiß nicht, wer einen darauf noch ansprechen wird“, gibt Wohlatz ebenfalls zu bedenken. Und wer wisse schon, wie lange die Klassenkameradin wirklich eine Freundin ist ... Abgesehen davon gebe es ganz unterschiedliche Phasen und Lebensabschnitte, erklärt Wohlatz. Zeiten, in denen man lieber nicht spricht, und Zeiten, in denen es gut sein kann. Das könne auch nach zehn Jahren erst der Fall sein. „Da darf man sich dann nicht selbst davon abhalten, weil ja schon Gras über die Sache gewachsen sei.“

Schwierig ist die Sache auch für den Partner – oder in einer neuen Beziehung. „Wenn man jemanden nach einer sexuellen Traumatisierung kennenlernt, gibt's keine gute Lösung, egal, ob man es ihm am ersten Tag sagt oder nach zwei Jahren“, stellt Wohlatz nüchtern fest.

Es gehöre jedenfalls viel dazu, ein sexuelles Gewalterlebnis öffentlich zu machen. „Es ist ja auch nicht einfach, über guten Sex zu reden“, sagt Sozialarbeiterin Kussyk. „Gestern war es wieder richtig gut – das erzählt man doch nicht einfach so. Sex ist zwar überall präsent, aber das Reden darüber gehört nicht zu unserer Alltagskultur.“

Organisation–''Unbreakable''

Grace Brown hörte im Herbst 2011 die Geschichte der Vergewaltigung einer guten Freundin. Sie beschloss, sie mit einem Poster zu fotografieren, auf dem ein Zitat des Vergewaltigers steht.

500 Missbrauchsopfer hat Brown seither auf diese Weise fotografiert. Auf www.project-unbreakable.org sind die Bilder ausgestellt, einige davon finden Sie hier auf diepresse.com.

Rein aus Spenden finanziert organisiert „Unbreakable“ an US-Universitäten Workshops, um das Bewusstsein für sexuellen Missbrauch zu stärken.


„Du bist nichts“. Grace Brown ist davon überzeugt, dass das Projekt „Unbreakable“ sowohl vergewaltigten Frauen und Männern helfen kann, ihre persönliche Qual zu mindern, als auch die Gesellschaft wachsamer zu machen. Rund um die Jahreswende wird sie auch ankündigen, wann sie in europäischen Städten fotografiert.

Wie heilsam es sein kann, sich mit einem Zitat seines Vergewaltigers vor die Kamera zu stellen, kann Kaelyn Siversky, die Managerin von „Unbreakable“, aus eigener Erfahrung erzählen. Vor sieben Jahren wurde sie missbraucht. „Du bist nichts“, verhöhnte sie der Mann. „Diese Worte habe ich immer und immer wieder gehört“, schreibt Siversky in ihrem Bericht auf der Website von „Unbreakable“. „Diese Worte haben mein Leben ständig beeinträchtigt, sie waren ein Versuch, mich davon zu überzeugen, dass ich wertlos sei, dass ich nichts anderes als das verdiene, was mir zugestoßen ist.“

Befreiung. Dann traf sie Grace Brown und rang sich am 28. Oktober vorigen Jahres dazu durch, ein Foto machen zu lassen (Sie finden es auf dieser Seite). „Es war, als würde ich ein Geheimnis erzählen. Doch statt die Worte zu flüstern, die mir damals ins Ohr geflüstert wurden, schrie ich eine Lüge heraus, die ich bis dahin zu verbergen gezwungen war. Das war unglaublich befreiend. Diese Worte werden für immer mit mir sein. Aber zum ersten Mal wurde ich von ihnen nicht gefangen gehalten.“

Mit dieser Erfahrung ist Siversky nicht allein. Und so bereist sie mit Grace Brown die Vereinigten Staaten, um die Botschaft vom heilenden Fotografiertwerden zu verbreiten.

Zu tun gibt es für die beiden Frauen viel. Das jüngste Foto nahm Brown am 7. Oktober in einer Stadt in Connecticut auf. „Wenn du schreist, sorge ich dafür, dass es mehr wehtut als beim letzten Mal“, steht auf dem Poster, das eine Frau in die Kamera hält. Wie ein Opfer sieht sie nicht aus. Nicht mehr.

Sexuelle Gewalt

29,5 Prozent aller Frauen in Österreich wurden schon Opfer von sexueller Gewalt. Jede dritte Frau berichtet von einer versuchten Vergewaltigung, jede vierte Frau wird vergewaltigt.

74,2 Prozent – also drei von vier Frauen – erleben sexuelle Belästigung. Für 99,1 Prozent der Betroffenen hat das Erleben sexueller Gewalt negative psychische oder körperliche Folgen.

2 Prozent der sexuellen Gewalttäter kommen vor Gericht. Weniger als ein Prozent erhält eine unbedingte Freiheitsstrafe. Und: In Österreich wird nicht einmal eine von zehn Vergewaltigungen angezeigt, nicht einmal jede fünfte Anklage führt zu einer Verurteilung.

Quelle: Notruf Beratung für vergewaltigte Frauen und Mädchen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.10.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Polanski
Salon

Samantha Geimer: "Ich mag keine Polanski-Filme"

Samantha Geimer wurde als 13-Jährige vom großen Filmregisseur Roman Polanski vergewaltigt. Skandal und Gerichtsfall verfolgen beide ihr Leben lang. Nach 36 Jahren bricht das Opfer sein Schweigen.
Salon

Wenn man schreien will, aber kein Ton kommt

Wie man im Ernstfall reagieren soll, warum Opfer niemals »schuld« sind und Täter oft davonkommen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.