Bootsflüchtlinge: "Unser Meer wird zum Friedhof"

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Mehr als 400 Bootsflüchtlinge starben binnen zweier Wochen. Neben Italien fühlt sich auch Malta überfordert. Premier Muscat zieht über die EU her: "Wir hören nur leere Worte."

Rom/Valletta. Nach den jüngsten Flüchtlingstragödien im Mittelmeer mit mehr als 400 Toten wächst der Druck auf die EU. In ungewöhnlich scharfen Worten rief nun auch die maltesische Regierung Brüssel zum Handeln auf. „Bisher hören wir von der EU nur leere Worte“, kritisierte Ministerpräsident Joseph Muscat in einem BBC-Interview. Erst am Freitag waren bei einem neuerlichen Schiffsunglück zwischen Malta und Lampedusa mindestens 35 Bootsflüchtlinge ums Leben gekommen, mehr als 200 konnten gerettet werden. „Ich weiß nicht, wie viele Menschen noch sterben müssen, bevor etwas geschieht. Wie die Dinge im Moment stehen, machen wir unser eigenes Mittelmeer zum Friedhof“, erklärte nun Muscat.

Sein Inselstaat ist neben Italien am stärksten von der Flüchtlingskrise betroffen. Rom hat das Flüchtlingsproblem längst zu einem zentralen Anliegen erklärt und verlangt, dass sich der EU-Gipfel am 24. und 25. Oktober damit auseinandersetzt. „Wir können nicht mehr weitermachen wie bisher“, erklärte der italienische Ministerpräsident Enrico Letta auch am Wochenende. Es müsse etwas auf europäischer Ebene geschehen. Sein Land sei überfordert. Die Zahl der italienischen Schiffe und Flugzeuge im Mittelmeerraum werde jedenfalls verdreifacht, kündigte  Letta.

„Herr, erbarme Dich“

Unterstützung erhielt die italienische Regierung von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz: „Die Regierung in Rom muss zwar ihre eigenen Probleme mit den Aufnahmekapazitäten lösen, aber die 27 anderen EU-Staaten dürfen nicht untätig zusehen“, sagte Schulz der Nachrichtenagentur DPA. Der SPD-Politiker bemängelte, dass sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der Migrationsdebatte in Europa kaum etwas getan habe. EU-Kommissar Günther Oettinger forderte einen besseren Grenzschutz und die Erhöhung der Entwicklungshilfe.

Auch Papst Franziskus meldete sich erneut zu Wort. Bereits Anfang Juli hatte er bei einem Besuch auf der Flüchtingsinsel Lampedusa die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Migranten angeprangert. Am Wochenende schrieb der Pontifex im Kurznachrichtendienst Twitter: „Herr, erbarme Dich. Allzu oft sind wir durch unser angenehmes Leben geblendet und weigern uns, diejenigen wahrzunehmen, die vor unserer Haustür sterben.“ Und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, warnte in der „Passauer Neuen Presse“: „Wir dürfen Europa nicht als Festung ausbauen, in die keiner mehr hineindarf.“ Er hoffe, dass die Tragödie von Lampedusa zu einer Wende führe, so Zollitsch.

Die Zahl der Todesopfer der Schiffstragödie vor Lampedusa am 3. Oktober ist indes auf 360 gestiegen: Nach italienischen Angaben wurden am Wochenende 22 weitere Leichen aus dem Meer geborgen. 155 Flüchtlinge hatten den Schiffbruch überlebt. Sie berichten, dass insgesamt 545 Menschen an Bord gewesen seien.

Schüsse auf Flüchtlingsboot

Am Freitag ereignete sich dann die nächste Tragödie vor Lampedusa: Überlebende des havarierten Flüchtlingsbootes berichteten der Zeitung „Malta Today“, dass das Boot vom libyschen Militär unter Beschuss genommen worden war. Ein Militärschiff sei ihnen zuvor stundenlang gefolgt und habe den Kapitän zur Rückkehr aufgefordert. Schließlich hätten sie auf den Maschinenraum gefeuert. Eine Stellungnahme aus Libyen gab es dazu vorerst nicht. Das Schiff war in der Hafenstadt Suwara in See gestochen. Am Freitag war ein zweites Flüchtlingsboot auf dem Weg nach Europa vor der Küste Ägyptens gesunken. Dabei starben zwölf der rund 150 Menschen an Bord, überwiegend Palästinenser und Syrer.

Trotz der jüngsten Tragödien machen sich immer mehr Bootsflüchtlinge von Nordafrika aus auf den Weg nach Europa. In der Nacht zum Sonntag brachte die italienische Küstenwache ein Schlauchboot mit 14 Menschen auf, eine im neunten Monat schwangere Frau wurde mit einem Hubschrauber nach Lampedusa gebracht. Am Vortag war ein Schiff mit 183 Flüchtlingen kurz vor der Küste der winzigen Mittelmeerinsel abgefangen worden. Weiterhin half die Küstenwache 85 Migranten, die etwa 85 Seemeilen südlich von Lampedusa festsaßen. Auch Montagfrüh traf ein Boot mit 137 Migranten direkt im Hafen der italienischen Insel ein, ohne dass es von der Küstenwache zuvor gesichtet worden war.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2013)

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