„Diesen Kuss der ganzen Welt“: Was Gustav Klimts Fries zeigt

Diesen Kuss ganzen Welt
Diesen Kuss ganzen Welt(c) Leopold Museum, Wien (Manfred Thumberger)
  • Drucken

Er ist ein Schlüsselwerk des Aufbruchs der Wiener Moderne: Gustav Klimts von Beethovens Neunter Symphonie inspirierter Bilderfries. Er zeigt die Suche nach Glück und ihre Erfüllung in der Poesie.

April 1902. Wien war empört. „Solche Orgien hat das Nackte noch auf keiner Wiener Ausstellung gefeiert.“ Oder: „Hier aber hört der Spaß auf, und ein brennender Zorn erfasst jeden Menschen, der noch einen Rest von Anstandsgefühl hat. Was soll man denn zu dieser gemalten Pornografie sagen?“ Es ging wieder einmal um Gustav Klimt, den Skandalkünstler Wiens um 1900. 34 mal zwei Meter lang schlängelte sich sein jüngstes Werk, ein Bilderfries, in einem Raum „seiner“ Secession, der jungen Künstlervereinigung, die er mitbegründet hatte. Man wollte hier das Gesamtkunstwerk ehren und beschwor dazu Beethoven, damals Inbegriff des leidenden Genies. Max Klingers große Beethovenskulptur, heute im Museum der bildenden Künste in Leipzig, war das Zentrum der Gruppenschau. Klimts Fries war ihr Aufreger.

Man sah alles, zu realistisch gemalte Schamhaare zum Beispiel, nur nicht das Wesentliche – die Erfüllung des suchenden Mannes im Weiblichen. Aber von Anfang an. Für seine drei Wände umspannende Bilderfolge hatte Klimt sich von Beethovens Neunter Symphonie – ja, an ihrem Ende die spätere Europa-Hymne – inspirieren lassen. Erst folgen wir schwebenden, schlummernden Genien (wunderschönen Klimtschen Schutzgeistern) in eine Traumwelt. (Sigmund Freuds Traumdeutung erschien nur zwei Jahre zuvor.) Sie führen uns zur nackten Menschheit, die bittend die Hände ringt vor einem Ritter in goldener Rüstung. Er soll für sie, für uns das Glück suchen. Hinter ihm sein innerer Antrieb, die Allegorien von Ehrgeiz und Mitleid. Zum Kampf wird es nicht kommen, was der US-Kulturhistoriker Carl E. Schorske als typisch für das „geschwächte liberale Ego“ in Wien um 1900 interpretierte.

Gorgonen mit Schlangenhaaren


Die Genien fliegen weiter, über weite, leere weiße Flächen – es ist der schiere Putz der Wände, den Klimt hier dramaturgisch einsetzt. Wir gelangen ins Reich der „Feindlichen Gewalten“, beherrscht von einem affenartigen Monster mit Schlangenkörper. Es ist das der griechischen Sage entsprungene Ungeheuer Typhoeus, bei Klimt begleitet von drei Gorgonen mit Schlangenhaaren sowie Allegorien von Krankheit, Wahnsinn, Tod, Wollust, Unkeuschheit, Unmäßigkeit und der Depression, damals „nagender Kummer“ genannt. Die Genien aber berührt dieser Aufmarsch wenig, sie ziehen im Hintergrund einfach vorbei.

Das Glück im goldenen Uterus


Bis sie auf das Glück stoßen, die Poesie, eine Frau mit Leier. Hier fügte Klimt einst den Durchblick auf Klingers Beethovenskulptur im Nebenraum ein. Dann die Schlussszene: ein küssendes Paar, begleitet von einem Chor der Paradiesengel. „Seid umschlungen, Millionen / Diesen Kuss der ganzen Welt“, heißt es im Schlusschor der Symphonie, basierend auf Schillers „Ode an die Freude“. Der Mann verschmilzt mit der Frau zu einem Wesen. Und zwar in einem goldenen Uterus, wie Schorske es sah. Die Erlösung liegt in der Regression also. Begleitet von der Hysterie, Kunsthistoriker erkannten in den Mienen von Klimts Frauenfiguren im Fries die der Hysterikerinnen auf den Fotos, die der Neurologe und Freud-Förderer Jean-Martin Charcot in der Klinik Salpetriere aufnehmen ließ.

Ein im vorigen Klimt-Jahr von der Secession herausgegebenes Buch („Der Beethovenfries. Ich möchte Teil einer Jugendstilbewegung sein“) gibt den neuesten Stand der Wissenschaft wieder. Und bestätigt den Fries als „Schlüsselwerk des künstlerischen Aufbruchs ins 20. Jahrhundert“. Klimts Herangehensweise war wegweisend: Die raumgreifende Ornamentik und die Einbeziehung der rohen Wandfläche weisen auf die Abstraktion hin. Die Montagetechnik (Klimt baute Gold, Perlmutt, Halbedelsteine) auf den Kubismus, die Verklärung der Hysterie auf den Surrealismus. Die Darstellung weiblicher Nacktheit war radikal. Und die Idee des Temporären und Ortsspezifischen inspiriert Künstler, die in der Secession ausstellen, noch heute.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Klimts Beethovenfries in der Secession
Kunst

Klimts Beethovenfries: Secession gegen Restitution

Erich Lederer habe den Fries "aus freien Stücken und zu einem von ihm selbst ausgehandelten Preis" verkauft, argumentiert die Secession.
KlimtRestitution Alte Faelle eine
Kunst

Klimt-Restitution: Alte Fälle und eine Zeugin

Das in London ausgestellte Porträt "Amalie Zuckerkandl" könnte erneut zur Restitution vorgeschlagen werden. Sammlerwitwe Leopold erinnert sich an den Verkauf des "Beethovenfrieses".
Beethovenfries Weitere Erben legen
Kunst

Beethovenfries: Weitere Erben legen Gutachten vor

Auch eine zweite Erbengruppe, vertreten vom Wiener Anwalt Alfred Noll, fordert Gustav Klimts Meisterwerk zurück.
Klimts Beethovenfries Ausschnitt
Kunst

Klimts Beethovenfries: Erzwungener Verkauf?

Die Anwälte der Erben stellten in Wien Dokumente vor, die für eine Restitution sprechen sollen. Auch ein zweiter Antrag dürfte folgen.
Erben fordern Rueckgabe Beethovenfrieses
Kunst

Erben fordern Rückgabe des Beethovenfrieses

Klimts Bilderfries, 1939 vom NS-Regime geraubt, wurde 1945 zurückgegeben, aber mit Ausfuhrverbot belegt, 1973 kaufte ihn die Republik Österreich. Nun stellten die Erben einen Antrag auf Rückerstattung.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.