Bis zu 40 Kilometer. Jeden Tag. Bei jedem Wetter. Gleich, wie lange Schneefall oder Hitzewelle, Regen oder Sturm auch anhalten. Was treibt Extremwanderer an? Erfahrungen jenseits der 1000-Kilometer-Grenze.
Sitzt man Fritz Peterka gegenüber, sieht er eigentlich gar nicht danach aus. Normaler Körperbau, keineswegs ausgezehrt, von jeglicher Triathlon-Physiognomie weit entfernt. Trotzdem ist der 63-Jährige insgesamt sieben Mal von Hainburg nach Bregenz gewandert. Jeweils 1300 Kilometer, sage und schreibe 66.000 Höhenmeter bergauf und hügelab, über Felsen, auf Trampelpfaden, durch Schnee, Frost, Hitze, entlang von Straßen, all das steckt in seinen Füßen drinnen. Größe 43, sämtliche Zehen sind noch dran, keine weiteren Auffälligkeiten. Fritz Peterka hat es trotzdem nicht in die Liga der „großen Reisenden“ mit ihren saalfüllenden Multimediashows geschafft. Weitwanderer wie der pensionierte Lehrer kommen ohne Expeditionsglamour aus. Und trotzdem sind sie unterwegs gewesen. Schritt für Schritt, stur auf den Boden blickend, der Kopf irgendwann eher leer als voll mit den großen Ideen. Die gab es vorher, zu Hause.
Von außen lassen sich Hikes jenseits der 1000 Kilometer beeindruckend an, von innen her sind sie oft erstaunlich leer. Auch das Reden über das „große Ding“ fällt vielen nicht leicht. Dafür gibt es auf YouTube jede Menge Bilder. Mit und ohne Musik. Mit und ohne Gedanken aus dem populären Poesiealbum. Manchmal Berichte. Ganz selten richtige Reisebücher. Eines der bekanntesten ist wohl „Frühstück mit Bären“ von dem amerikanischen Journalisten Bill Bryson. Verfasst in den 1990ern nach einem längeren Aufenthalt auf dem vor allem in den USA berühmten 3500 Kilometer langen Appalachian Trail, erzählt es in ironischer Weise, wie das so ist, wenn man sich als dezidierter Nichtabenteurer in dem Waldgebiet der Appalachen auf den Weg macht, eine Gegend, die man hierzulande eigentlich nur aus Bürgerkriegsepen und Western kennt: Virginia, Connecticut, Carolina und wie sie alle heißen.
Jüngst schrieb auch Cheryl Strayed eine in bester US-Unterhaltungsprosa gehaltene Großreportage über den großen Bruder des Appalachian Trail, den an der Westküste verlaufenden Pacific Crest Trail. Noch länger,nämlich mehr als 4200 Kilometer lang, von Mexiko bis nach Kanada reichend: Strayed, die Frau mit dem „Loch im Herzen“ – so eine Selbstbeschreibung – ist davon gut ein Viertel gewandert: Ihre Erlebnisse mit ihrem „Monster“ (Rucksack), wie sie sie in dem Band „Der große Trip“ beschreibt, kann man bestens empfehlen.
Im deutschsprachigen Raum hat sich bis heute weder ein Bryson noch eine Strayed etabliert. Speziell in Mitteleuropa hat das Wandern auch eine andere Konnotation: Da geht es eher ums Wallfahren, etwa um den Jakobsweg bis Santiago de Compostela, meisteinige 100 Kilometer lang, in der kleineren Österreich-Ausgabe geht es um Mariazell. Bis auf Hape Kerkelings Reportage „Ich bin dann mal weg“ über seinen Jakobsweg gehört noch immer dem Alpinismus der große Bücherberg, also etwa Heroen wie Reinhold Messner, die seit Langem das Abenteuer Berg umkreisen und beschreiben.
Vom großen und kleinen Scheitern
Vom großen und kleinen Scheitern ist in dieser Literatur erstaunlich selten die Rede. Obwohl es das gibt. Völlig undramatisch, ohne Überknöchelung oder Schnittwunde: das Aufhören, Genughaben, Einfach-nach-Hause-Wollen. Hikes ab einer gewissen Dimension sind vor allem psychisch beanspruchend. Vielleicht ist auch deswegen bei uns der Tagesausflug so beliebt. Im Idealfall vom Auto weg und zum Auto zurück. Wobei: In den wanderstarken 1970ern, als in ganz Österreich das Wandern in Form der Volkswandertage populär war, mutierte auch bei uns das Wandern zum Weitwandern. Freilich, wie könnte es auch anders sein, natürlich mit Medaillen, Anstecknadeln und Stempelkissen.
Fritz Peterka erinnert sich noch sehr gut daran. Damals berichtete sogar die „Zeit im Bild“ über stattgehabte Volkswandertage. Der 63-Jährige, der auch heute noch problemlos einige Tage hindurch um die 40 Kilometer hinter sich bringt, war maßgeblich an der Entwicklung der insgesamt zehn großen österreichischen Weitwanderwege beteiligt. Sein persönliches Meisterstück ist der Zentralalpenweg 02, über den er auch einen entsprechenden Wanderführer verfasst hat. Wie schon gesagt: knapp 1300 Kilometer lang, 66.000 Höhenmeter, kein leichtes Unterfangen, auf diesem Weg vom Osten in den Westen zu gelangen. Die Boomzeit der karierten Wandertracht ist schon lang vorbei. Gingen in den 1980ern noch pro Jahr etwa fünf Wanderer den Weg durch – 1980 waren es sogar 13 –, war es 2012 gar keiner mehr. Knapp 400 Personen sind es in Summe.
Gründe mag es mehrere geben, einer davon ist sicherlich das fehlende Charisma dieses sehr kraftraubenden Wegenetzes. Am Ende wartet keine Kathedrale, sondern die Bahnstation in Bregenz, zum Nachhausefahren. Für Peterka ist das freilich kein Problem. Hört man seinen Ausführungen länger zu, entsteht das Bild eines US-Marine-Wanderers. Knapp und sachlich schildert er seine vielfältigen Wandermärsche kreuz und quer durch die Alpen und Mitteleuropa. Mit der teils arg kitschigen Wohlfühlprosa diverser Jakobswallfahrer fängt er nichts an. Damit gehört er zu einer Minderheit. Auch heute entstehen neue lange Passagen durch Europa, jüngst etwa der Alpe-Adria-Trail, vom Großglockner bis nach Grado (760 Kilometer) oder der 6000 Kilometer lange Jizoweg quer durch Europa, diverse buddhistische Zentren miteinander verknüpfend. Ihnen gemeinsam ist, dass hier dem Lebenssinn gehuldigt wird. Stempelkissen, Medaillen, Leistungsabzeichen mitsamt bürokratischer Ordnung sind verpönt.
Kommt man verändert zurück? Für Christian Kodym könnte das zutreffen. Vor drei Jahren ist der 23-Jährige den Pacific Trail gewandert. Der Trail zieht sich über die verschneite Sierra Madre bis in eine Höhe von 4000 Metern, durchquert Wüsten, zieht sich entlang der Rocky Mountains. Kodym ist das alles in einem Stück gewandert. Nicht in Berg-, in Laufschuhen. Quer durch von Schneewasser geschwollene Bergbäche, tagelang mit Kompass auf Schneedecken ohne Wegkennzeichnung, und das alles mit leichtem Gepäck. Ultralight Hiking nennt sich diese Gewichtstüftelei, der manchmal sogar der halbe Teil der Zahnbürste oder nicht notwendige Teile der Schlafmatte geopfert werden. Leichtgepäck heißt deswegen aber auch, mit Sicherheit irgendwann zu wenig dabei zu haben. Sei es der zu dünne, aber leichtere Schlafsack, sei es das Tarp anstelle des Zeltes. Wer lange wandert, muss auf sein Gewicht achten. Zumal, wenn es außerhalb Europas passiert. Kein Alpenverein, kaum bewirtschaftete Hütten, nur alle paar Tage die Möglichkeit, etwas Proviant und Flüssigkeit nachzukaufen: Was in den Alpen ganz selten passieren kann, ist in den USA der Normalfall. Also wie ist das mit der Veränderung? Kodym denkt nach, sein knappes Fazit: Selbstgenügsamkeit.
Auch der Deutsche Martin Fürst war lange unterwegs. 2011 ist er den Appalachian Trail gewandert. Anders als die Normalroute, ist er vom Norden in Maine gestartet und in den Süden zum Springer Mountain in Georgia gewandert. Vier Monate war er unterwegs, dann hat es das Wetter nicht mehr zugelassen. Vier Monate, 120 Tage, durchwandern. Beim deutschen Elektriker, der heute eine Sicherheitsfirma leitet, hat es 2010 „klick“ gemacht. Eine Reportage war der Auslöser, „auf irgendeinem dieser deutschen Sender“. Damals ist etwas passiert, unbemerkt von seinen Freunden und Bekannten. „Das kann ich, das will ich auch“, so etwa hat sich das „klick“ angehört.
Müsli, Hafer, Trockenmilch
Dazu kam noch eine abrupt zu Ende gegangene große Liebe. Viel Erfahrung im Wandern hatte er bis dahin nicht gesammelt. Längere Tagestouren, mit dem Zelt im Garten draußen geschlafen: das übliche Naturprogramm, was wir uns so leisten. Nichts Ernstes, nichts wirklich Abenteuerliches, aber eben draußen. Umso gewaltiger war dann auch der Umstieg: nicht zwei, drei Tage mit Zelt und Kochgeschirr durch die Natur wandern, auch nicht eine Woche, sondern insgesamt 16 Mal Montag bis Sonntag.
Trails dieser Dimensionen haben Ähnlichkeiten mit Rückführungen, wie man sie aus der Psychologie kennt. Sie führen den Einzelnen – wer findet sich auch sonst noch für ein solches Unterfangen? – zurück in die Zeit, als der Mensch noch Nomade war. Aufstehen, schnelles Frühstück, meist bestehend aus Müsli oder Haferbrei, vermengt mitTrockenmilch und Wasser, die meist noch feuchte Zeltplane in den Rucksack stopfen, und schon geht es wieder los, in irgendeinen neuen Tag auf solch einem Trail. Fürst verlor seine Freude am Lagerfeuer erst in der dritten Woche. Bis dahin wirkte noch die deutsche Waldlichtungsromantik. Am Feuer sitzen, hineinschauen in die flirrende rote Glut, das Knacken der Scheiter, das Zusammenrücken mit anderen einlangenden Wanderern, der Blick in den dunklen, detaillosen Wald. Irgendwann war es damit vorbei. Übrigens auch mit der Angst vor Tieren, die es bei uns kaum gibt: Schwarzbären, Wildkatzen, Giftschlangen. Der Hiker wird erwachsen, nüchtern, zielorientiert.
Was einen durchhalten lässt, ist die seltsame Befriedigung an täglicher Kilometerfresserei. Bis zu knapp 40 Kilometer am Tag. Bei jedem Wetter. Gleich, wie lange der Schnee oder die Hitzewelle, Regen, Wind und Moskitoschwärme auch anhalten. Es bleibt sich gleich, da kein Auto, keine Hütte, kein Gasthaus auf einen wartet. Mehr ist aus dem Wald, vom schmalen Steig, der sich durch die Wälder schlängelt, irgendwann nicht mehr herauszuholen. ■
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2013)