"Sie wollten nicht, dass wir wieder zurück nach Wien kommen"

Ist über den Holocaust schon alles erzählt? Nein, ist es noch lange nicht. Daran erinnern uns "Die letzten Zeugen" auf der Bühne des Burgtheaters.

Wir wissen, seit wir mit dem Internet leben, dass Erinnerung ein Fluch sein kann. Facebook, Vorratsdatenspeicherung, NSA-Skandal und Überwachungsstaat: Ständig weiß irgendjemand mehr über uns, als uns recht ist. Und ständig erfahren wir über andere mehr, als wir eigentlich wissen wollen. Tausende Details kleben auf der elektronischen Schleimspur, die wir seit zwei Jahrzehnten im virtuellen Raum hinter uns herziehen. Und selbst wenn wir es darauf anlegen – es ist fast unmöglich, eine Information, die einmal in der Welt ist, wieder zu entfernen.

Ähnlich gut dokumentiert wie unsere Biografien sind die Orte, an denen wir uns täglich bewegen. Jede Straßenecke findet man auf Google Streetview, samt Fotos. Und wer mag, kann diese mit wenig Aufwand mit anderen Daten verbinden: dem Mietpreisspiegel im Bezirk, dem Angebot der umliegenden Geschäfte oder den Bewegungsprofilen der Grätzelbewohner. Wir ertrinken in Information, schallt uns von allen Seiten die Warnung entgegen.

Nach Jahrhunderten, in denen sich der Mensch verzweifelt ums Dokumentieren bemüht hat, besteht die größte Herausforderung heute im Löschen. Nicht beim Erinnern brauchen wir Hilfe, heißt es, sondern beim Vergessen. Doch dann passiert ein Abend wie neulich im Burgtheater, und man merkt: alles nicht wahr.

Da sitzen „Die letzten Zeugen“ auf der Bühne, fünfundachtzig, neunzig, hundert Jahre alt, ein paar der allerletzten Überlebenden des Holocaust, und führen uns vor, wie wichtig erinnern ist. Und wie schnell es mit dem Vergessen gehen kann, wenn man nicht achtgibt.

Ich wohne im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Der Weg zu meiner Bankfiliale führt mich durch die Glockengasse. Hausnummer 29: Dort wohnte das zehnjährige Arbeiterkind Vilma Neuwirth mit sieben Geschwistern. Im März 1938 „veränderten sich die nicht jüdischen Nachbarn von einem Tag auf den anderen. Auf einmal trugen sie Stiefel, auf einmal waren sie wer“, berichtet sie. Der Schulweg führte Vilma durch die Pazmanitengasse: „Wenn der Unterricht aus war, wurden wir vor dem Schultor von einer Meute alter und junger Nazis empfangen. Sie schlugen mit Ketten und Hundepeitschen auf uns ein. Es waren Frauen, die sich dabei besonders hervortaten. Für sie war es eine Vormittagsunterhaltung, ehe sie auf den Volkertmarkt einkaufen gingen.“

Durch die Pazmanitengasse geht heute mein Sohn in die Schule, auf dem Volkertmarkt kaufen wir ein, gegenüber unserem Haus in der Castellezgasse befand sich ein Sammellager, in denen die Juden des Bezirks zusammengepfercht wurden, vor dem Transport in die Vernichtungslager. Heute sind in dem Gebäude Luxuswohnungen mit Terrassen. Wie es sich wohl anfühlt, dort zu wohnen? Hat der Bauträger den Käufern die Geschichte erzählt? Oder war es egal?

Ein paar Straßen weiter Richtung Donaukanal, in der engen Czerningasse, gleich beim ehemaligen jüdischen Theater im Nestroyhof, hängt seit Jahren ein großes Werbeschild. „Vergaser“ steht drauf. Hat der Automechaniker über dieses Wort je nachgedacht?

Rudolf Gelbard wohnte als Kind nicht weit von hier, über die Franzensbrücke. Er sah die Lastwagen, die Männer, Frauen und Kinder nach Buchenwald brachten. „Ich beobachtete alles genau“, sagt er – auch die Passanten, die den Gefangenen nachspuckten, als die LKW kurz stehen blieben. Am Schwedenplatz, dort, wo heute der Eissalon ist.

Und was passierte nach der Befreiung Buchenwalds, als die wenigen Überlebenden wieder zurückwollten nach Wien? Das weiß Marko Feingold: Sie ließen ihn nicht. An der Zonengrenze an der Enns wurde er abgefangen und nach Buchenwald zurückgeschickt. Weil man in Wien fürchtete, KZ-Überlebende könnten Posten, Wohnungen oder Besitz zurückfordern. Oder sich an die Gesichter der Täter erinnern.

Hundert Jahre ist Feingold heute alt. Lang werden uns die letzten Zeugen nicht mehr beim Erinnern helfen können.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Zeitzeugin Lucia Heilman, groß im Bild. Im Burgtheater kamen neben ihr Suzanne-Lucienne Rabinovici, Ari Rath, Vilma Neuwirth, Rudolf Gelbard und Marko Feingold zu Wort. Auf dem Sessel der verstorbenen Ceija Stojka: ihr Tuch.
Bühne

Der Holocaust: „Die letzten Zeugen“

75 Jahre nach dem Novemberpogrom von 1938 bringt ein Projekt von Doron Rabinovici und Matthias Hartmann Überlebende der Vernichtung auf die Bühne. Eine bewegende Collage mit Erinnerungen starker Charaktere.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.