„Fritz, ich habe zwei Minuten“

Ich hatte als erste Stunde Turnen. Ich schnürte mir die Turnschuhe. Ich wusste, ich würde an diesem Morgen die Schule nicht sehen. Dann läutete die Türglocke. Einmal. – Vor 75 Jahren: Novemberpogrom 1938 in Wien.

Der Tag begann mit einem Gepolter, das ich durch mein Kopfkissen hörte. Das Rumpeln weckte mich. Dann läutete die Türklingel wie ein Wecker. Es war sechs Uhr morgens. Mein Vater, meine Mutter, meinkleiner Bruder und ich kamen alle im Gang zusammen, alle im Bademantel. Wir wussten noch nicht genau, was war. Dennoch wussten wir. Wir waren Juden in Wien 1938. Alles in unserem Leben stand am Rand eines Abgrunds, auch unsere Betten.

Mein Vater öffnete die Tür für Frau Eckel, unsere Hausmeisterin.

„Die sind da unten ... sie schmeißen Zeug herum.“ Sie drehte sich weg und machte weiter mit dem morgendlichen Auskehren. Ihr Besen zitterte. Wir schauten hinunter in den Hof. Rosawangige SA-Angehörige tratschten und pfiffen. Zerhackte Möbel flogen zum Fenster hinaus. Die SA-ler fingen die Stücke sportlich auf und stapelten sie. Einer summte etwas aus der „Lustigen Witwe“.

„Franz! Lauf irgendwohin!“, sagte meine Mutter zu meinem Vater.

Da waren wir schon zu dem Fenster gegangen, von dem aus man auf die Straße sah. Am Hauseingang zündeten sich zwei SA-ler gegenseitig Zigaretten an. Ihre Kameraden zerschlugen gerade die Synagoge im Stock unter uns und warfen die Trümmer der Torahs und Bänke hinaus.

„O, mein Gott!“, sagte meine Mutter.

Etwas Überwältigendes drängte sich in meine Augen. Ich konnte es nicht zulassen. All das war vielleicht nicht wirklich, solange nicht wirkliche Tränen über mein Gesicht liefen.

„So“, sagte mein Vater. „Inzwischen ziehen wir uns an.“Inzwischen bedeutete, bis sie zu unsheraufkommen.Keine anderen Juden lebten im Haus. Es hatte keinen Hinterausgang. Doch solange ich es schaffte, meine Tränen zurückzuhalten, würde ich es auch schaffen, die SA-ler zurückzuhalten. Solange sie dort unten alles zerstörten, würden sie nicht heraufkommen. Solange der Boden weiter wackelte, die Axtschläge, das Krachen des Vorschlaghammers weitergingen, konnten wir vielleicht leben.

Ich hatte als erste Stunde Turnen. Ich schnürte mir die Turnschuhe. Ich wusste, ich würde am heutigen Morgen die Schule nicht sehen. Es war mir nicht wichtig, dass ich das wusste. Es war mir nur wichtig, nicht zu weinen. Ich versuchte, mein ganzes Denken in das Schnüren meiner Turnschuhe fließen zu lassen.

Wir kamen im Wohnzimmer zusammen. Wir waren so normal angezogen, dass es angesichts des krachenden Weltuntergangs unter uns grotesk war. Dann hörte es auf. Das Zittern und Gepoltere hörte auf. Ein anderes Geräusch. Schwere Schritte in Stiefeln, die nach oben kamen. Ich schnürte meine Turnschuhe neu.

Mein Vater hatte seinen Hut aufgesetzt. „Alle ganz zu mir“, sagte er. „Meine beiden Söhne, legt euch die Hände auf den Kopf.“ Wir legten die Hände auf den Kopf wie Hüte. Mein Vater legte uns die Arme um die Schultern, um die meiner Mutter, meines Bruders, um meine.

„Schma Israel“, sagte mein Vater. „Wiederholt nach mir: Schma Israel, Adonaj Elohenju, Adonaj Echad...“ (Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig...)

Die Türglocke läutete. Einmal. Seit dem Anschluss hatten wir an unserer Tür immer mit einer raschen Folge von zwei Tönen geläutet, um zu signalisieren, dass es sich um ein harmloses Läuten handelte und nicht um das gefürchtete. Jetzt war das gefürchtete Läuten gekommen.

„Hansi, geh du“, sagte mein Vater.

„Nein!“, sagte meine Mutter.

„Hansi ist der Einzige, dem sie vielleicht nicht gleich etwas tun“, sagte mein Vater. „Hansi, geh.“

Mein Bruder, ein winziger, blonder Achtjähriger, eine arisch aussehende Puppe, ging.

Eine Minute später kam er zurück. Hinter ihm ragten ungefähr zehn SA-ler mit schweren Spitzhacken auf. Sie waren jung und strahlten vor Aufregung. Zehn Bräutigame an ihrem Hochzeitstag. Einer hatte Sommersprossen. Wie konnte ein Mensch mit Sommersprossen uns umbringen? Die Sommersprossen verhinderten, dass ich weinte.„Hausdurchsuchung“, sagte der Anführer.„Keine Bewegung.“

Wir standen alle an der Wand, nur mein Vater nicht. Er hatte sich, den Hut immer noch auf, etwas vor uns gestellt.

Sie rissen jede Schublade in jeder Kommode und jedem Kasten heraus und warfen sie in die Luft. Sie ließen das Besteck über den Boden klirren, die Kleider herumfliegen und stiegen über die verstreuten Dinge, um die nächste Schublade herauszureißen. Ihre Begeisterung war erstaunlich. Erstaunlich, dass keiner von ihnen die Spitzhacke hob, um uns den Schädel zu spalten.

„Wir kommen vielleicht wieder“, sagte der Anführer. Auf dem Weg nach draußen warf er unseren Perlmuttaschenbecher über seine Schulter wie Konfetti. Wir sprachen und atmeten und bewegten uns nicht, bis wir ihre Stiefel auf dem Gehsteig hörten.

„Ich gehe ins Büro“, sagte mein Vater. „Vielleicht kann Breitel helfen.“

Breitel, der Reichskommissar in der Modeschmuckfabrik meines Vaters, war ein „guter“ Nazi. Einmal hatte er gesagt, dass wir zu ihm kommen sollten, wenn es Probleme gäbe.Mein Vater ging fort. Meine Mutter weinte, vor Erleichterung, vor Angst; sie hielt meinen entgeisterten kleinen Bruder an sich gekuschelt. Ich drehte mich weg von ihr. Ich schwor mir, ich würde etwas anderes tun als weinen.

Ich fing gerade an, Kleidungsstücke aufzuheben, als die Türglocke wieder läutete. Es war mein Vater.

„Ich habe zwei Minuten.“

„Was?“, sagte meine Mutter. Doch siewusste es. Seine Augen waren wie Glas.

„Eine andere Mannschaft hat unten auf mich gewartet. Sie haben mir zwei Minuten gegeben.“

Nun brach ich zusammen. Nun war meinVater der Einzige, der nicht weinte. Seine Augen waren wie blaues Glas, unbarmherzig trocken. Sein Kuss fühlte sich stachelig an. Er hatte sich heute Morgen nicht rasiert. Nachdem er meine Mutter ein weiteres Mal umarmt hatte, marschierte er zur Tür, drehte sich auf dem Absatz um und rief: „Fritz!“

Ich ging zu ihm, schluchzend.

„Hör auf!“

Ich konnte nicht aufhören.

Seine Hände fielen harsch auf meineSchultern.

„Wenn ich nicht zurückkomme – räche mich!“

Er war fort. Die Wut seiner Finger stach noch. Sie brannte mir ein Gefühl der Kontinuität in die Haut, trotz allem. Ich hörte auf.

Vier Monate später läutete er an der Tür zweimal, mit rasiertem Schädel, einem Skelett gleich aus Dachau entlassen, irgendwie am Leben.

Jahrzehnte später übte er mit meiner Mutter Tangotanzen in Miami Beach. Mein kleiner Bruder Hansi war Vorstand des Instituts für Politikwissenschaft am Queens College. Ich bin Schriftsteller in Amerika mit einer amerikanischen Familie. Wir hatten untypischviel Glück. Doch wir läuten immer noch an unseren amerikanischen Türen zweimal. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

GERMANY HOLOCAUST POGROM ANNIVERSARY
Zeitreise

Der Vorabend des Holocaust

Die Nacht des 9. November 1938 – die neue Dimension der nationalsozialistischen Gewalt gegenüber Juden. Ein Pogrom vor den Augen der ganzen Welt.
GERMANY HISTORY POGROM ANNIVERSARY
Zeitreise

Der Herr Nachbar schaute zu

9.November 1938. Die verwirrende Geschichte der drittgrößten Synagoge Wiens in der Sechshauser Vorstadt. In der Katastrophennacht brannte der Turnertempel völlig aus.
Vilma Neuwirth und Walter Fantl-Brumlik
Zeitreise

Die letzten Zeitzeugen erinnern sich

In der Nacht von 9. auf 10. Oktober 1938 waren sie zwischen zehn und 14 Jahre alt. Rudi Gelbard, Vilma Neuwirth, Walter Fantl-Brumlik und Karl Pfeifer über ihre Erinnerung an jene Nacht.
Anti-Nazi Parole
Weltjournal

Antisemitismus in der EU steigt wieder stark an

Die jüdische Bevölkerung beklagt eine Zuspitzung. Drei von vier in der Europäischen Union lebenden Juden glauben, dass Antisemitismus in ihrem Land im Laufe der vergangenen fünf Jahre zugenommen hat.
Zeitzeugen lernte wahren Wiener
Zeitreise

Zeitzeugen: "Ich lernte die wahren Wiener kennen"

75 Jahre danach: Walter Fantl-Brumlik und Vilma Neuwirth erzählten bei einer Gedenkveranstaltung, wie sie die Novemberpogrome in Österreich erlebten.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.