Ein Überschuss ist nicht zwangsläufig gut und ein Defizit nicht unbedingt schlecht – und Deutschland ist das Paradebeispiel dafür.
Brüssel. Ist der deutsche Leistungsbilanzüberschuss gut oder schlecht? Wer diese Frage stellt, geht von einer falschen Prämisse aus, denn Bilanzen sagen nichts über Moral und Ethik aus. Vereinfacht ausgedrückt zeigt die Leistungsbilanz das Verhältnis zwischen Ausgaben und Einnahmen einer Volkswirtschaft auf: Produziert ein Land mehr, als es benötigt, verzeichnet es einen Überschuss – verhält es sich umgekehrt, dann hat es einen Fehlbetrag und muss Kapital aus dem Ausland importieren. Was an sich kein Drama ist, denn für ein Entwicklungsland kann es durchaus sinnvoll sein, ausländische Investoren am Aufbau seiner Wirtschaft zu beteiligen. Für die Geldgeber aus dem Ausland wiederum bietet dieser Aufholbedarf Chancen auf höhere Renditen als auf dem saturierten Heimatmarkt. Problematisch wird die Sache erst, wenn das importierte Kapital nicht für produktive Zwecke eingesetzt wird, sondern in den Konsum fließt – der spanische Immobilienboom ist dafür ein teures Beispiel.
Doch zurück nach Deutschland: Die Bundesrepublik wies in den 1990er-Jahren über weite Strecken eine negative Leistungsbilanz auf – einer der Hauptgründe dafür war der Investitionsbedarf im Zuge der Wiedervereinigung. Übrigens fuhr das heutige Problemkind Frankreich damals Leistungsbilanzüberschüsse ein. Apropos Überschüsse: Aufgrund der volkswirtschaftlichen Arithmetik ist es nicht möglich, einen Überschussbetrag im Inland zu behalten. Die deutschen Exportweltmeister sind also dazu gezwungen, ihre Gewinne im Ausland anzulegen. Ob diese Investitionen Früchte tragen, ist eine andere Sache. Die Erfahrungen mit der globalen Finanzkrise geben diesbezüglich Anlass zur Skepsis. (la)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2013)