Massenwahn und Tod aus dem Iran, als Tierversuch getarnt

(C) Petro Domenigg/ FILMSTILLSAT
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Ein Test im Schauspielhaus: „Weißes Kaninchen, Rotes Kaninchen“. Im Zentrum stand das Publikum.

Auf einem kleinen Tisch stehen zwei Gläser mit Wasser. Sonst ist die Bühne des Wiener Schauspielhauses bis auf eine Leiter und einen Sessel leer. Bald nach Beginn von „Weißes Kaninchen, Rotes Kaninchen“ wird eine zufällig ausgewählte Frau aus dem Publikum gebeten, in eines der Gläser ein Pulver zu schütten. Ist es wirklich Gift, wie der Text behauptet? Wird hier tatsächlich ein Selbstmord inszeniert? Dieses Wissen belastet sensible Menschen in der nächsten Stunde, so wie das gesamte Konzept des Stückes Stress bedeutet – vor allem für die Darstellerin.

Nassim Soleimanpour (29) aus dem Iran besitzt erst neuerdings einen Pass. Bei der Premiere am Dienstag in Wien war der Autor anwesend. Sein Stück, das erfolgreich in aller Welt gezeigt wird, bereits in 15 Sprachen übersetzt wurde, stellt Schauspieler jeden Abend erneut auf die Probe, nun auch erstmals in Österreich. Als Erste war Adele Neuhauser dran. Kurz vor ihrem Solo erhält die inzwischen vor allem als „Tatort“-Kommissarin weithin bekannte Künstlerin den Text in die Hand gedrückt, den sie, so heißt es, nicht kennt. Ein wenig Nervosität ist ihr anzumerken, sie überspielt das charmant und mit Witz.

Manipulation, Zensur und Gift

Keine Proben also, das Lesen ist die Probe. Man soll doch dem Autor ein E-Mail senden, heißt es ermunternd. Und Neuhauser darf zumindest ein paar Zuschauer darum bitten, ihr bei der Darstellung behilflich zu sein, mit kleinen Rollenspielen als Tiere. Das Publikum wird manipuliert. Die Show funktioniert. Wenn die Schauspielerin einen eigenen Kommentar beim Improvisieren abgibt, legt sie das offen. Diese Nebenbemerkungen helfen ihr anscheinend, Routine zu gewinnen, so wie auch Anweisungen an das Publikum entspannend wirken. Die Spielerei gibt der Vorführung etwas Laienhaftes. Der subtile Text hingegen, der Reflexionen über die Mühen des Schreibens, Methoden der Zensur und das Elend blinden Gehorsams anstellt, signalisiert Komplexität. Soleimanpour hat den Wehrdienst im Iran verweigert. Er gehört zur Generation jener, die immer einem repressiven System ausgesetzt waren. Hier wird nicht nur gespielt. Hier geht es um die Existenz. Vielleicht ist ja doch Gift im Glas!

Was hat die Protagonistin zu erzählen? Ohne zu viel zu verraten: Es geht um Experimente, um angepasste weiße und individuelle Kaninchen, die rot gefärbt werden. Um den Massenwahn, den die brutalen Eingriffe erzeugen. Um einen Onkel, der Suizid beging. Das ist aber nur die Oberfläche. Im Zentrum steht eigentlich das Publikum, das in ein tolles, absurdes Spiel gezwungen wird und so das Ausgeliefertsein fast ungeschützt erlebt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2013)

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