Schach-WM: Das Model und der Tiger

Magnus Carlsen
Magnus Carlsen(c) REUTERS (BABU)
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Der 22-jährige Norweger Magnus Carlsen hat bei der Schach-WM im indischen Chennai einen starken Start gegen Titelverteidiger Viswanathan Anand hingelegt, seine Führung am Samstag ausgebaut.

Schach ist kein großer Publikumssport. Denn selbst die vielen kleinen Dramen, die sich zwischen a1 und h8 zutragen, stellen nur einen kleinen Bruchteil des Spiels dar. Der Rest des Eisberges bleibt unter Wasser, liegt zu jedem Zeitpunkt zig Züge in der Zukunft – in den Köpfen der Kontrahenten, die versuchen, die Entwicklung der Situation weiter und genauer vorherzusehen als ihr Gegenüber. Das ist ein geistiger Prozess, der für Normalsterbliche kaum nachvollziehbar ist.

Dazu kommt, dass – spätestens seit Aufkommen der Computeranalysen in den 1980er- und 1990er-Jahren – alle möglichen Spielvarianten erforscht sind. Die Zeit der großen, genialen Innovationen, der fulminanten, neuen Eröffnungszüge ist lange vorbei – es ist die Zeit der kühlen Feinmechaniker, die aus unzähligen Varianten die richtige aus dem Gedächtnis abzurufen und umzusetzen wissen.

Gut möglich, dass große Schachturniere schon deswegen immer lieber mit anderen Perspektiven konnotiert wurden als nach spielerischen Kriterien. Am deutlichsten war das bei der hochpolitischen Weltmeisterschaft 1972, als der Amerikaner Bobby Fischer den Russen Boris Spasski in der Laugardalshöllin in Reykjavík bezwang – und damit mitten im Kalten Krieg die Vorherrschaft der Sowjetunion brach, deren Repräsentanten sich den Weltmeistertitel jahrzehntelang untereinander ausgemacht hatten.

Eine Vorherrschaft, deren Nachwirkungen erst dieser Tage endgültig zu Grabe getragen werden. Seit Samstag vergangener Woche sitzen einander im indischen Chennai (bis 1996: Madras) Titelverteidiger Viswanathan Anand als Lokalmatador und sein norwegischer Herausforderer Magnus Carlsen gegenüber. Es ist die erste Weltmeisterschaft seit Havanna 1921 – damals besiegte der kubanische Diplomat den deutschen Rekordweltmeister Emanuel Lasker –, in der kein Spieler aus den ehemaligen Sowjetstaaten am Tisch sitzt.

Spätestens mit dieser Paarung verschiebt sich der Fokus weg von den Nationalitäten der Spieler: „Norwegen und Indien richten keine Atomraketen aufeinander“, hat der 43-jährige Anand der „Zeit“ im Vorfeld erklärt. „Deswegen taugt das Politische nicht als Blickwinkel.“ In den Vordergrund treten bei dieser WM stattdessen die Akteure selbst – und gerade bei dem Duell Carlsen gegen Anand gibt es ein weites Spektrum, wie man es interpretieren kann.

Vor allem ist es ihr Alter, das das Bild von einem „Kampf der Generationen“ geradezu heraufbeschwört – wie es auch Anand selbst tat; er spricht von einem „offensichtlichen“ Kampf „Jugend gegen Erfahrung“: Carlsen ist mit seinen 22 Jahren Nummer 1 der Weltrangliste; mit 2870 Elo-Punkten gilt er als der beste Schachspieler der Geschichte, hat den bisherigen Rekord seines einstigen Lehrers Garri Kasparow eingestellt. Jetzt führt er nach sechs Spieltagen mit 4:2 gegen Anand. Er feierte am Samstag den zweiten Sieg (Turmendspiel) in Folge. Weltmeister wird, wer als erster 6,5 Punkte erreicht.


Der jüngste Erste. Carlsens Vater hatte schon versucht, seinen hochbegabten Sohn – schon mit vier hatte er über 400 norwegische Städte samt deren Einwohnerzahlen auswendig gelernt – mit fünf Jahren an das Spiel heranzuführen. Aber erst drei Jahre später begann sich Carlsen doch für das Spiel zu interessieren – aus Ehrgeiz, seine Schwester zu besiegen. Von da an saß er täglich mehrere Stunden übend am Brett – aus eigener Motivation. „Niemand trieb mich an, ich war nur neugierig“, sagt er heute. Mit neun Jahren gewann Carlsen erste Turniere, mit 13 war er Großmeister, mit 14 schlug er Kasparow. Seine Eltern kauften ihm zur Belohnung ein Eis bei McDonald's.

Durch seine Jugend ist Carlsen, der als haushoher Favorit in das Duell gegen Anand – derzeit auf Rang acht der FIDE-Weltrangliste – geht, eine Art Nerd-Rockstar. Seine spielerische Präzision und sein Talent für psychologische Kriegsführung – wie einst Kasparow kann er seine Gegner mit Grimassen und gespieltem Desinteresse verwirren – haben den 22-Jährigen zum Millionär gemacht. 2010 stand er gemeinsam mit Schauspielerin Liv Tyler als Model für eine niederländische Jeansmarke vor der Kamera.

Ruhm, der bei dem nach außen extrem einsilbigen Carlsen, der noch immer bei seinen Eltern lebt, nicht ohne Allüren kommt: Als erster Teilnehmer einer WM hat er sich – wohl aus Angst vor den hygienischen Zuständen in Indien – eine Krankheitsklausel ausbedungen. Und als Anand als Zeichen von Sportsgeist seinen Beraterstab offenlegte, antwortete Carlsen nur knapp: „I'm afraid I can't return the favor.“ Was wiederum Spekulationen befeuerte, dass Carlsen sich wieder von Kasparow – derzeit wegen seiner Präsidentschafts-Ambitionen persona non grata bei FIDE-Turnieren – beraten ließe, der am Freitag im Hyatt Regency Hotel, wo der Wettbewerb steigt, gesichtet wurde.


Weltmeister ohne Allüren. Mit solchen Allüren ist es schwer, Carlsen nicht als Gegenpol seines Konkurrenten zu betrachten. Trotz seines martialischen nom de guerre, „Der Tiger von Madras“, gilt Viswanathan Anand als einer der „menschlichsten“ Schachweltmeister seit langem: Ohne paranoide Weltsicht eines Bobby Fischer, ohne die Arroganz Kasparows und ohne die Introvertiertheit seines einstigen Trainigspartners Carlsen gilt der Weltmeister, der seinen 2007 errungenen Titel seither schon auf drei Turnieren verteidigen konnte, als der „nettere“ der beiden Spieler.

Anands Mutter hatte ihm mit sechs Jahren beigebracht, Schach zu spielen – die Begeisterung für das Spiel begann aber erst zwei Jahre später, als er vorübergehend auf den Philippinen lebte, wo infolge der Schach-WM 1978 (Karpow-Kortschnoi) große Schachbegeisterung ausgebrochen war. Systematisch gefördert wurde Anand aber nicht – er musste sich die Erlaubnis zu spielen durch gute Schulnoten „verdienen“. Nach der Schule studierte er BWL – aus Angst, komplett in dem Spiel aufzugehen und ohne „vernünftiges“ Standbein“ zu enden, wie er einmal in einem Interview erklärte. Mit 19 stieg er als erster Inder zum Großmeister auf.

1995 ging er zum ersten Mal ins Duell um die (von der FIDE nicht anerkannte) Weltmeisterschaft, unterlag aber Kasparow. 2000 erlangte er seinen ersten Titel, seit 2007 hat Anand alle Weltmeisterschaften für sich entschieden – was mit für den Schach-Boom in Indien verantwortlich sein dürfte, wo heute die Hälfte aller Erwachsenen angibt, mindestens einmal im Monat zu spielen – zum Vergleich: In Russland ist es nur ein Drittel. In der Provinz seiner Heimatstadt Chennai ist der Schachunterricht unterdessen sogar verpflichtend. Zum Training für die WM hat sich Anand aber drei Monate lang ins deutsche Bad Soden bei Frankfurt zurückgezogen, wo er deutschen Lokalmedien zufolge ein zurückgezogenes, bescheidenes Leben führte. Ein Leben, wie er es auch Carlsen wünscht: Schon vor fünf Jahren sagte er, der Norweger müsse endlich ein Mädchen kennenlernen – „damit man in Zukunft noch mit ihm mithalten kann.“

WM-Duell

Titelverteidiger
Viswanathan Anand, 43, begann im Alter von sechs Jahren mit dem Schach und stieg mit 19 zum Großmeister auf. 1995 spielte der Inder erstmals um den WM-Titel, unterlag jedoch in New York Titelverteidiger Garri Kasparow. 2007 gewann Anand dann das WM-Turnier in Mexiko Stadt und verteidigte bislang dreimal erfolgreich seinen Titel (2008 gegen Kramnik, 2010 gegen Topalow und 2012 gegen Gelfand).

Herausforderer
Magnus Carlsen, 22, wurde bereits im Alter von 13 Jahren zum Großmeister und setzte sich 2010 als jüngster Spieler der Geschichte an die Spitze der Weltrangliste. 2011 boykottierte er das WM-Kandidatenturnier, da ihm der K.o.-Modus nicht zusagte. Im Februar dieses Jahres stellte der Norweger mit 2872 Punkten einen neuen Elo-Rekord auf.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2013)

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