Trotz seiner Lügen und Schwächen ist John F. Kennedy der beliebteste moderne US-Präsident.
Wer zum ersten Mal in seinem Leben die Dealey Plaza im Herzen von Dallas besucht, ist zumeist erstaunt: so klein und eng ist das hier! Viel kleiner, als es in dem stummen Amateurfilm von Abraham Zapruder aussieht, der John F. Kennedys Limousine schier endlos wirkende Sekunden lang an einer weiten grünen Wiese vorbeirollen lässt, ehe der Präsident wie von einem bösen Geist erfasst einmal, zweimal zuckt und dann leblos in den Schoss seiner Gattin Jacqueline kippt. Und wer durch das Fenster im sechsten Stock des Schulbuchlagers auf die Dealey Plaza hinterspäht, durch das Lee Harvey Oswald am 22. November 1963 um 12.30 Uhr Ortszeit sein Gewehr steckte, der erschrickt: So nahe war Kennedys Wagen dort unten, und genau vor dem Fenster. Um von hier zu treffen, musste man kein Meisterschütze sein.
So wie die räumlichen Dimensionen von Kennedys Sterbensort rasant schrumpfen, wenn man sich ihnen nähert, so schrumpft auch die ins Royale verklärte Aura des 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten bei näherer Betrachtung. Kennedys schamlose Frauengeschichten sind bekannt, der Einstieg in die Verantwortung des Präsidentenamtes ging mit der desaströs gescheiterten Invasion Kubas daneben, und die Senkung der Einkommensteuer brachte er ebenso wenig durch den Kongress wie ein Gesetz zur Stärkung der Bürgerrechte.
Die Mär von der Kriegsverletzung. Besonders infam war Kennedys jahrzehntelanges Lügen über seine schwer angeschlagene Gesundheit: Heute weiß man, dass er spätestens seit dem 20. Lebensjahr mittels großer Mengen von Hormonen und Steroiden seine chronische Darmentzündung zu behandeln versuchte. Diese Therapie schlug zwar fehl, dürfte aber zu einer Degeneration seiner unteren Wirbelsäule und höllischen Rückenschmerzen geführt sowie eine lebensbedrohlichen Erkrankung der Nebennieren ausgelöst haben. Kennedy log noch während der demokratischen Vorwahlen 1960 über diesen Umstand; bis heute hält sich die Mär, wonach seine Rückenschmerzen aus einer Verwundung im Zweiten Weltkrieg rühren.
Und trotzdem ist Kennedy ungebrochen der mit Abstand beliebteste US-Präsident seit Dwight D. Eisenhower. In der neusten Gallup-Umfrage nennen ihn 74 Prozent der Amerikaner herausragend, 85 Prozent heißen seine Amtsführung gut. Seit 1999 wird er in den Gallup-Erhebungen stets mit George Washington und Abraham Lincoln als einer der drei größten Präsidenten genannt. „Ich denke, dass ihn deshalb noch immer Millionen von Menschen so anziehend finden, weil sie ihn als jungen Mann von 46 Jahren in Erinnerung haben“, sagt der Kennedy-Biograf Robert Dallek.
Die Kennedys waren Amerikas königliche Familie: An diesem Bild dynastischer Berufung zu großen Dingen feilte Familienpatriarch Joe Kennedy jahrelang. „Galahad im Haus“, ließ er 1947 eine katholische Zeitung in Boston mit Anspielung auf den Ritter von König Arthurs Tafelrunde titeln, nachdem JFK ins US-Repräsentantenhaus gewählt worden war. Die zahlreichen Todesfälle ließen diese privilegierte Familie jedoch menschlich erscheinen. „Die Amerikaner identifizieren sich mit ihrem Erfolg ebenso wie mit ihrer Tragik“, so Dallek.
Natürlich war Kennedy auch der erste Präsident, der das junge neue Leitmedium Fernsehen meisterhaft beherrschte. Der wesentliche Grund aber für seine ungebrochene Strahlkraft liegt paradoxerweise in seinem frühen Tod während der ersten Amtszeit, gibt Dallek zu bedenken: „Nach acht Jahren im Weißen Haus ist jeder Präsident aufgerieben. Das wäre auch Kennedy passiert. Wir hätten von ihm nicht dieses Bild, wenn er überlebt hätte.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2013)