Sierra Leone: Die Frau, die über Beschneidungen spricht

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Genitalverstümmelungen sind in dem westafrikanischen Land bei Kindern und jungen Mädchen verboten, kontrolliert wird aber kaum. Sia Evelyn Nyandemo will erreichen, dass die Frauen zumindest Entscheidungsfreiheit haben.

Freetown. Sia bedeutet in Sierra Leone erste Tochter der Mutter. Viele Frauen tragen diesen Namen, doch diese hier hat eine Aufgabe, die sie von ihren Schwestern unterscheidet. Eine ihrer beiden Töchter wurde mit Sichelzellenanämie geboren. Seit Jahren kämpft Sia gegen den Aberglauben an, den die afrikanische Bevölkerung der Krankheit entgegenbringt, doch daraus hat sich noch ein anderer Kampf ergeben. Sichelzellenanämie führt zu Durchblutungsstörungen, bisweilen auch lebensbedrohlichen Komplikationen bei der weiblichen Genitalbeschneidung. Einer der Gründe, warum Sia beschlossen hat, einen Dialog zu eröffnen.

Die weibliche Genitalverstümmelung ist in vielen Teilen Afrikas Tradition, die die Familien unabhängig von ihrem persönlichen Glauben praktizieren. Wird ein heranwachsendes Mädchen beschnitten, spricht man davon, sie in die Bondo Kultur einzuführen – so wird der Geheimbund in Sierra Leone genannt. Mitglieder sind nur bereits beschnittene Frauen, Männern ist es verboten, darüber zu sprechen. Ursprünglich war der Geheimbund dazu gedacht, junge Frauen für ihr zukünftiges Leben als Ehefrau und Mutter zu trainieren und ihnen Respekt für ihre Mitmenschen beizubringen.

Die Beschneidung führt aber auch zu Todesfällen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheidet zwischen vier Typen bei der weiblichen Genitalverstümmelung, in Sierra Leone ist ausschließlich der Typ I üblich: die teilweise oder vollständige Entfernung des äußerlich sichtbaren Teils der Klitoris oder der Klitorisvorhaut.

Beschneidung als großes Fest

Sia Evelyn Nyandemo ist heute ungefähr 56 Jahre alt, sie zählt die Jahre nicht mehr regelmäßig, und es ist ihr auch nicht wichtig. Aufgewachsen ist sie bei ihren Großeltern, da ihre Mutter sich nach Sias Geburt von ihrem leiblichen Vater getrennt hat und in ein anderes Dorf gezogen ist. Mit 16 Jahren sah ihre Mutter die Zeit gekommen, sie in die Bondo Kultur einzuführen. Die Einführung, wie die Beschneidung meist genannt wird, ist ein großes Fest, bei dem das Mädchen im Mittelpunkt steht. Sia erzählt gelassen über ihre eigenen Erfahrungen. Drei Monate vor der Beschneidung werden die Mädchen freigestellt von ihren täglichen Pflichten im Haushalt, ein anderes Mädchen, meist eine Freundin, begleitet sie auf allen Wegen. In der Woche vor der Beschneidung werden die männlichen Verwandten in den Urwald geschickt, um eine Hütte zu bauen, in der das Mädchen wohnen wird. Am Tag der Beschneidung werden die Haare des Mädchens aufwendig geflochten, sie wird mit einem kostbaren Gewand gekleidet, das die Stellung und Reichtum der Familie widerspiegelt.

Den ganzen Tag wird gefeiert. Man isst, trinkt, singt und tanzt gemeinsam mit dem ganzen Dorf. Verwandte reisen an und steuern Lebensmittel und Geschenke bei. Für die Zeremonie arbeitet die Familie bereits ein Jahr im Vorhinein, man pflanzt zusätzlich an, um die Gäste ausreichend bewirten zu können. Die Frau, die die Beschneidung durchführt, wird mit Reis, Fleisch, Salz, Palmöl und weißer Kleidung bezahlt, Bargeld kommt nur selten vor. Die Frauen leben von dieser Arbeit und genießen Ansehen im Dorf.

Geschmückt zieht das Mädchen dann mit anderen bereits beschnittenen Frauen aus dem Dorf in den Urwald, wo die Beschneidung selbst stattfindet. Was dann passiert, kann Sia nicht erzählen. Sie sagt, es wäre wie ein Verrat gegenüber ihrer Kultur. Tatsächlich ist es allen Mitgliedern verboten, über die Riten zu sprechen.

Drei Wochen in der Hütte

Sicher war es schmerzhaft, sagt Sia, aber man hält den Schmerz aus. Weinen steht nicht zur Diskussion. Indem man den Schmerz erträgt, beweist man, dass man dem Bondo Kult würdig sei. Nach der Beschneidung zieht das Mädchen für drei Wochen in die Hütte. Es werden ihr Frauen zur Seite gestellt, die sie baden und ankleiden, ihre Speisen zubereiten und Botengänge für sie erledigen. Anschließend ziehen die Frauen unter Gesang und Tanz wieder in das Dorf ein, das Mädchen wird ihren Eltern zur Heirat übergeben.

Zwei Jahre lebte Sia bei ihrer Mutter, bis sie ihren Ehemann kennen lernt. Noch im selben Monat heirateten sie. Erst mit der Geburt ihrer Töchter setzte sie sich mit diesem Thema auseinander.

Nach jahrelangen Protesten von Menschenrechtsorganisationen ist die Genitalbeschneidung seit 2007 bei Mädchen unter 18 in Sierra Leone verboten, doch eine wirkliche Kontrolle findet nicht statt. Zwar kommt die Zwangsbeschneidung in gebildeten Familien kaum mehr vor, und auch in den Städten ist ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen, doch auf dem Land gehen viele noch den Traditionen nach. Sia erzählt, wenn der Zeitpunkt für die Beschneidung bei einem Mädchen verstreicht, versammeln sich Mitglieder der Dorfgemeinschaft vor dem Haus der betroffenen Familie und beschimpfen das Mädchen. Auch auf der Straße ist man Beleidigungen ausgesetzt, manche Familien schicken ihre Töchter deswegen für diesen Zeitraum zu Verwandten, andere geben nach. Die Polizei fühlt sich nicht zuständig. Daher ist es für Sia wichtig, das Gespräch zwischen den Dorfleitern, führenden Frauen der Bondo Kultur und Ärzten zu initiieren. Ihr Wunsch wäre es, medizinische Vorgespräche zu ermöglichen sowie die Beschneiderinnen von Ärzten ausbilden zu lassen. Immer noch sterben Mädchen aus ungeklärter Ursache.

Kindern eine Stimme geben

Sia wird oft ein vulgäres Mundwerk vorgeworfen. Kein Wunder in einem Land, in dem man nicht über Sex spricht. Sie lacht bei dem Vorwurf. Nachdem sie lange mit ihrem Mann in London gelebt hat, ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt und hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Mädchen eine Stimme zu geben. Sie will erreichen, dass jede von ihnen selbst über die Beschneidung entscheiden kann. Ihre beiden Töchter haben sich dagegen entschieden.

Für den Aufenthalt der Autorin in Sierra Leone kam die Organisation World Vision auf.

Auf einen Blick

Genitalverstümmelung. Mit ihrer Organisation „Sickle Cell Carers Awareness Network (SCCAN)“ will Sia Evelyn Nyandemo die Bevölkerung von Sierra Leone über Krankheiten und Behandlungen informieren sowie Hilfe im Alltag für die Betroffenen und deren Familien anbieten. Weibliche Genitalverstümmelung bezeichnet die teilweise oder vollständige Entfernung der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2013)

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